So., 01.12.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Argentinien: Ein Jahr Präsident Milei: Fortschritt oder Kahlschlag?
Der Ausblick… schon besonders: Direkt in die Werkstatt. Hier schläft und wohnt Mariano Lopez. Wenn er denn in der Stadt ist, der Unternehmer ist viel unterwegs: "Ich habe unten ein Bad und hier ein großes Zimmer. Klimaanlage, Fernseher. Das ist alles, was ich brauche. Ich bin zum Arbeiten hier." Lanús ist eine Kleinstadt im Großraum Buenos Aires. Hier im Industrie-Gebiet reihen sich Mittelstandsunternehmen, wie das von Mariano. Fenster und Türen verkauft er seit 14 Jahren. In der Werkstatt wird geschafft und Kunden stehen vor der Tür. Ein gutes Gefühl sei das, dank Milei. "Da ist eine Vorfreude. Es gibt etwas, auf das man sich hin freuen kann. Dinge, wo du sagst, jetzt geht es los", sagt Mariano Lopez.
Dank Milei sei der Peso wieder etwas wert. Die ersten Monate seien extrem hart gewesen. Die Inflation und alle Kosten in den Himmel geschossen, weil Milei die Subventionen strich: allein die Stromrechnung ist jetzt drei Mal so hoch. Doch Mariano vertraut den Maßnahmen. "Uhh, das ist explodiert, wir waren gewohnt sehr wenig zu zahlen", sagt ein Argentinier. Jetzt ist die monatliche Inflation wie versprochen gebremst, liegt sogar unter drei Prozent. Preise, seit Jahren erstmals wieder stabil – und damit berechenbar. Das Vertrauen am Markt wachse. "Wir spüren Ruhe und Zuversicht. Man sieht es zieht an, langsam, aber ja es wird mehr", erzählt der Unternehmer.
Es ist Freitag und da spendiert Mariano seinem Team, wie die gute Tradition es verlangt, einen Asado. Wer ranklotzt hat was zu beißen, so sieht es Mariano. Durch Milei werde der Fleißige belohnt, der Sozialstaat abgesägt. Milei sei wie er: ein Macher, der sich auch gegen Widerstand durchsetze. Manchmal vielleicht etwas sehr schrill. Erst nimmt Javier Milei die Kettensäge, dann das Regierungs-Zepter in die Hand. Der ultraliberale Präsident setzt allein auf den freien Markt, verachtet den Sozialstaat: "Ich liebe es, der Maulwurf zu sein, der den Staat von Innen zerstört."
Die Konsequenzen der Sparpolitik sind überall spürbar
Ein Popstar der politischen Rechten, der gut ankommt, weil er eine unterhaltsame und erfolgreiche Show liefert. Umjubelt trotz oder wegen seiner politischen Schocktherapie, Milei streicht Subventionen für Sprit, Strom oder Nahverkehr. Streicht Ministerien und öffentliche Jobs. 2.000 Kilometer weiter im Südwesten hört die asphaltierte Straße auf. Staatliche Baumaßnahmen sind vorerst gestoppt. Patagonien – das bedeutet weites, dünn besiedeltes Land. Die Politik aus Buenos Aires erreicht Corcovado. Mit unverhofften Konsequenzen für seine 2.500 Einwohner. Hier hat Javier Villoldo ungewollt Zeit. 50.000 staatliche Angestellte hat Milei entlassen, Javier ist einer von ihnen.
"Es sagt Señor Javier Villoldo, …", liest Silvina Gutierrez vor. 20 Jahre als Filialleiter der staatlichen Post enden per Fax – ab sofort, kein nettes Wort. Mit 52 arbeitslos, auf dem Land. "Ich hätte niemals gedacht, dass es mir so schwer fällt von Null anzufangen, aber ich glaube ich habe ein wenig die Freude verloren, die ich früher hatte. Das geht bestimmt vorbei", sagt der ehemalige Post-Angestellte. "Ja, bestimmt", findet Silvina Gutierrez. Er habe die Filiale mit Herz geführt. Briefe vorgelesen, wenn ein Kunde darum bat. Die Türen spät Abends geöffnet, wenn ein ferner Nachbar im Schneesturm geritten kam. "Das Gesicht der argentinischen Post war ich", sagt Javier Villoldo. Die Post war die Brücke zur Außenwelt. Für einen privaten Paketdienst lohnt sich der kleine Ort nicht. Wie kommt jetzt die heimische Marmelade zu den Kindern in der Ferne? Fragt sich Fernando. Wie das Kunsthandwerk zu den Kunden im ganzen Land. "Ein Foto zur Auswahl kann ich mit dem Handy senden, aber das Produkt geht nur mit der Post raus, jetzt muss ich 100 Kilometer reisen, um es zu verschicken", erzählt Holz-Künstler Fernando Iphar.
Silvina dreht derweil im Laden nebenan jeden Peso fünfmal um. Ein Gehalt fehlt, Lebensmittelpreise sind deutlich teuer als früher. Beim Shampoo lässt sich sparen. Vernünftiges Klopapier – teuer, aber muss drin sein. Vier Euro für Gemüse – unbezahlbar. "Das ist jetzt Luxus für uns. Vielleicht für ein bis zweimal im Monat", sagt sie. Silvina schreibt an. In einem Jahr Milei ist die Armut im Land gestiegen. Etwa jeder Zweite ist betroffen.
In Lanús findet Firmenchef Mariano die Entlassungen im Einzelfall hart, aber im Grundsatz richtig, der Staat soll die Bürger wenig kosten. Er denkt darüber nach mehr Personal anzustellen. Aber erst, wenn Milei die Arbeitnehmerrechte wie versprochen lockert: "In Argentinien haben wir 750 Gewerkschaften, es ist unmöglich einen Arbeiter anzustellen, ohne Probleme zu bekommen." Das Asado ist fertig. Mariano hofft auf fette Jahre für Argentinien. Javier kämpft sich durch. Hat einen Tages-Einsatz als Tourguide sofort angenommen. 30 Euro? – besser als nichts. Nur auf Zuruf – egal.
Autorin: Xenia Böttcher / ARD Rio de Janeiro
Stand: 02.12.2024 09:40 Uhr
Kommentare