Mo., 11.01.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Balkan: Der Flüchtlingstreck
Der "Arabische Frühling" hat nicht nur den Nahen Osten erschüttert. Die Schockwellen, die vor allem die brutale Niederschlagung der Aufstandsbewegung in Syrien ausgelöst hat, sind bis nach Europa zu spüren. Millionen von Menschen sind auf der Flucht vor Krieg, Terror und Hunger. Eine ihrer Hauptrouten nach Europa führt über den Balkan.
Waren die Flüchtlinge bisher vor allem auf kriminelle Schleuserbanden angewiesen, um bis nach Deutschland, Österreich oder Schweden zu gelangen, so finden sie jetzt auf dem Balkan ein gut organisiertes, quasi staatliches "Schleusernetz", das sie so schnell es geht, von Griechenland durch Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien bis nach Zentraleuropa transportiert. Über ein in Flüchtlingsfragen zerrissenes Europa und über das große Geschäft mit Flüchtlingen berichtet ARD-Korrespondent Till Rüger, ARD Wien.
Die erste Hürde auf der Balkanroute – der Zaun an der griechisch-mazedonischen Grenze. Abdulah Akkash und seine Familie kommen aus Damaskus. Abdula ist Schweißer, hat sich das Geld für die Flucht von Verwandten geborgt. Im Winter kostet die Tour nur die Hälfte – sagt er – weil sich bei dem rauen Wetter weniger übers Meer trauen. "Ungefähr 2.000 Dollar haben wir alle zusammen bezahlt – für die Überfahrt im Boot." Andere, die nicht als Kriegsflüchtlinge gelten, werden abgewiesen, sie suchen sich meist illegal einen Weg am Grenzzaun vorbei.
Ein gutes Geschäft für Transportunternehmen
Zwei Wochen hat Familie Akkash von Syrien hierher gebraucht, doch jetzt wird alles ganz schnell gehen – hoffen sie. Pro Tag starten 2 bis 3.000 Menschen Richtung Deutschland. Hilfsorganisationen haben an vielen Etappen freies Internet eingerichtet. "Whatsapp" ist das wichtigste Kommunikationsmittel. Immer wieder schicken die Flüchtlinge Nachrichten in die Heimat und tauschen aktuelle Infos aus – über das, was noch vor ihnen liegt.
Wir sind im mazedonischen Durchgangslager Gevgelija, dem Startpunkt der Balkanroute. Vier bis fünf Mal am Tag fährt ein Zug nach Serbien – wann, weiß niemand so genau. 25 Euro pro Ticket, ein tausendfaches Geschäft für die mazedonische Eisenbahngesellschaft. Unter den Wartenden Lama Al Khadra aus dem syrischen Duma. Lama ist mit ihrem Cousin und ihrer kleinen Tochter unterwegs, der Mann wartet schon in Düsseldorf. Vor einer Woche hat sie ihr Studium als Ärztin beendet. Erst jetzt, mit dem Abschluss will sie Syrien verlassen. Sie hat keine Angst vor den Strapazen. "Wer in Syrien den Krieg erlebt hat, den kann nichts erschrecken. Ich war schon so oft in Todesgefahr, das macht mir nichts aus. Ich habe nur Angst um meine Tochter."
Zu Fuß, per Bahn, im Bus - quer durch Europa
Etwa 180 km sind es bis zum nächsten Halt über holprige Gleise. Normalerwiese drei Stunden Fahrt. Lamas Zug aber hat eine Panne, die Lock muss getauscht werden. Mit 6 Stunden Verspätung trifft sie an der mazedonisch-serbischen Grenze ein. An fast allen Stationen der Balkanroute stellen Hilfsorganisationen inzwischen unentgeltlich warmes Essen bereit. Wegen der Verspätung übernachten die meisten Flüchtlinge diesmal in einem der beheizten Zelte – die gibt es inzwischen auf jeder Teiletappe. Lama aber will weiter. Von ihrem Mann, der im September hier durchkam, weiß sie, das nächste Übergangslager ist nur knappe 900 Meter entfernt.
Am nächsten Morgen – die Balkanroute ist weiß. Im Grenzort Presevo müssen die Menschen die längste Strecke zu Fuß zurücklegen. Vom Überganslager sind es an die 8 km bis ins zentrale Serbische Flüchtlingslager. In Presevo gibt es die erste Kontrolle auf Waffen – alle Flüchtlinge müssen durch einen Metalldetektor. Mittendrin treffen wir Amer und seinen 16-Jährigen Bruder Abdulsalam. Die beiden kommen aus der IS-Hochburg "Deir ez-Zor" im Osten von Syrien. Als der IS sie für den Kampf rekrutieren will, beschließen sie, zu fliehen. "Ich will in Deutschland unbedingt weiter studieren und irgendwann einen deutschen Pass bekommen", sagt Amer Aliwi. Für sie und die anderen geht es dann fast 500 km per Bus quer durch Serbien. 35 Euro verlangen die Busunternehmer. Für sie ist die siebenstündige Fahrt ein lohnendes Geschäft, gerade im Winter, wo es kaum Touristen gibt. Bis zu einer Woche stehen die Busse deshalb hier an und warten auf eine Fahrt.
In 2 bis 4 Tagen ist das Ziel erreicht
Der nächsten Tag: Ankunft in Sid, an der kroatischen Grenze. Wieder Schlange stehen. Zum vierten Mal werden die Ausweispapiere überprüft. Auch hier verteilen Helfer wieder warme Kleidung, denn viele Flüchtlinge mussten alles zurücklassen. Gefütterte Winterschuh sind für die meisten Kinder etwas ganz Neues. Die beiden Brüder Amer und Abdulsalam wollen schnell weiter. Sie haben bisher auf der Tour kaum geschlafen, schaffen es auf den ersten Zug. Ab hier nimmt die Geschwindigkeit auf der Fluchtroute deutlich zu. Kroatien stellt kostenlose Züge zur Verfügung. Nur etwa ein Stunden dauert die Registrierung im Flüchtlingslager Slavoski Brod. Die Menschen werden erneut kontrolliert, die Angaben zur Nationalität überprüft und wieder Fingerabdrücke genommen. Mit einem anderen Zug geht es dann weiter durch Slowenien. Stacheldraht markiert die Schengen-Grenze. Slowenien hat angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen einen neuen, fast 140 km langen Schutzzaun gebaut.
Fünf Stunden später: Ankunft im österreichischen Villach – dem derzeitigen Endpunkt der Balkanroute. Zwischen 2 und 4 Tagen brauchen die meisten für die knapp 1.200 km von Griechenland bis Österreich. Hier treffen wir Sandra Kusseiri, die 22-Jährige hat im Irak eine Schneider-Lehre gemacht. Als Kind wurde sie bei einem Luftangriff der Amerikaner schwer verletzt. Jetzt hofft Sandra auf eine neue Chance in Deutschland. "Ich bin einfach nur glücklich. Ich bin zwar sehr müde, aber auch sehr froh endlich dort anzukommen." Mit extra bereitgestellten Bussen des österreichischen Heeres geht es weiter Richtung Deutschland – für die Menschen auf der Balkanoute das Land ihrer Träume.
Stand: 10.07.2019 12:22 Uhr
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