Mo., 11.01.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Frankreich: Jugend extrem
Dschihadistischer Terror und Rechtsruck. Was ist in Frankreich los? Frankreich hat ein bitteres Jahr erlebt. Terror, erst gegen die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, dann der blutige Anschlag in Paris im November und schließlich der historische Wahlerfolg des rechtsextremistischen "Front National" bei den letzten Regionalwahlen.
Vor allem Jugendliche haben ihre Stimme der extremen Rechten gegeben. Was haben junge Dschihadisten und junge Rechte gemeinsam? Warum radikalisiert sich scheinbar eine ganze Generation? Dieser Frage geht ARD-Korrespondent Mathias Werth, ARD Paris, nach.
Üben für den "heiligen Krieg"
Es ist einer dieser vielen beschaulichen und öffentlichen Parks in Paris. 13. Arrondissement. Spätherbst. Gleich neben den Kindern, die im Sandkasten spielen, ihren Müttern und den Parkwächtern, trainiert eine Gruppe bärtiger Männer den Kampf. Kein simpler Kampfsport. Sie trainieren den Krieg. Auch nachts trifft sich die Gruppe. Von französischen Filmemachern heimlich gedrehte Aufnahmen. Dabei zwei junge Männer, einer 24, der andere erst 17. Sie sprechen über ihre Freunde, die nach Syrien gegangen sind. "Ja, die sind schon in Syrien", sagt der eine. "Es gibt Brüder, die mit dem Auto hinfahren werden. Was sagst du?" "Wann willst du los?", fragt der andere. "Ich weiß es noch nicht, aber ich würde gerne hinfahren."
Zwei junge Franzosen haben diese Gruppe ins Leben gerufen. Der eine nennt sich Abo Ahissa, ist ein Salafist und schwärmt auch im Internet für den IS. Der zweite nennt sich Abu Abdel Malik, ein früherer Bankräuber von den Antillen, der nun Radikalislamist ist und inzwischen in Syrien bei den Truppen des IS kämpft. Hunderte Franzosen sind dort und drohen ihrem früheren Heimatland – wie dieser junge Franzose und Djihadist: "Ich habe eine Nachricht für euch Schweine in Frankreich! Du, Francois Hollande, ja du! Jeder Tropfen Blut, der deinetwegen vergossen wurde, wird von uns gerächt. Denn die jungen französischen Muslime und die Soldaten des IS sind bereit."
Die Jugendlichen müssen entradikalisiert werden
Farhad Khosrokhavar beschäftigt sich mit dem Weg der Radikalisierung junger Muslime und hat mehrere Bücher darüber geschrieben. "Die Verbindung nach Europa ist Syrien. Die Jugendlichen gehen dorthin, um Revolution zu machen, das zu tun, was sie nicht in Europa machen können. Das steht in direktem Zusammenhang mit der arabischen Krise. Wir erleben zum ersten Mal, dass Europa eng mit dem verbunden ist, was im Mittleren Osten passiert. Und der Islam ist für die Jugendlichen die einzige Form geworden, um sich zu widersetzen." Mehr als 1.200 junger muslimischer Franzosen seien in den heiligen Krieg des IS gezogen.
Doppelt so viele wie aus Deutschland. "Die Aufgabe wäre, diese Jugendlichen zu entradikalisieren, sie aus den Fängen des IS zu befreien", meint Dounia Bouzar vom Präventionszentrum gegen Radikalisierung. "Die Eltern sind da ganz wichtig. Der IS versucht, sich an die Stelle der Familien zu setzen. Der erste Schritt, um einen Jugendlichen zu entradikalisieren ist es, ihm seinen Platz in der Familie wiederzugeben." Leicht gesagt. Schwer zu schaffen.
Wieder heimlich gedrehte Aufnahmen. Wieder in einem Vorort von Paris. In einem dieser nichts – und deshalb vielsagenden Hochhäuser. Ihre Eltern und Familien haben sie oft schon weit hinter sich gelassen. "Vorher fühlte ich mich ganz allein. Mit den Brüdern hier haben wir uns zusammengerafft und gesagt, wir müssen uns treffen." In ihrer Wohnung viele schwarze IS-Flaggen, IS-Videos und IS-Bücher – bestellt über Facebook bei Brüdern, wie sie sagen, die schon direkt an der Front in Syrien seien. "Klar fänden das meine Eltern besser, wenn ich moderater wäre", sagt er. "Aber es gibt keinen moderaten Islam. Dann sagen sie: ‚Guck dir die Muslime in den Cafés an.‘ Und ich sage ihnen dann, dass sie den rechten Weg verlassen hätten. Meine Eltern sind total darauf fixiert. Für die sind die anderen gute Muslime, weil die integriert sind und wählen gehen und so. Und ich eben nur in meinem Fundamentalismus lebe."
Frankreich bietet den Jugendlichen zu wenig
Es ist die Suche nach Perspektive, nach Bedeutung vor allem, vielleicht Ruhm. Frankreich bietet ihnen nichts. Aber auch ihre eigenen Familien verheißen eher Ab- statt Aufstieg. "Es ist die erste Generation, die den Eindruck hat, dass ihr Leben weniger gut verlaufen wird, als das ihrer Eltern", erklärt Farhad Khosrokhavar, Hochschule für soziologische Studien Paris. "Vorher war der Glaube, das Leben der Kinder werde besser, als das der Eltern. Ein Sozialaufstieg war möglich. Inzwischen gibt es nur die Angst vor dem Abstieg. Und dann gibt es das Phänomen der ‚Kleinen Weißen‘, Franzosen, die denken, dass die ‚Araber‘ alles bekommen, alle Sozialleistungen und so weiter, und dass die Franzosen der Unterschicht vernachlässigt würden, und dann entwickeln sie eine antiarabische Haltung."
Es ist sie, die versucht, das zu nutzen. Marine Le Pen, Chefin des rechtsextremen "Front National", dem es mit antiarabischen Parolen gelingt, mehr dieser "Kleinen Weißen" Franzosen zu gewinnen als alle anderen Parteien. "Die französische Republik ist nicht mehr das, was sie einmal war", so Farhad Khosrokhavar. "Das ist das Problem. Sie schafft es nicht mehr, die Menschen politisch zu integrieren." Wer sich in der Gesellschaft ausgestoßen und nicht mehr sicher fühle, der suche sich eine neue, eine extreme.
Stand: 10.07.2019 12:22 Uhr
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