So., 22.09.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Bolivien: Vom Klima vertrieben
Für Eustaquio Mamani war es ein verlorenes Jahr. Jedes Mal, wenn der Bauer auf seine Felder fährt, erinnert ihn das an das extreme Klima der letzten Monate. Seit mehr als 4.000 Jahren lebt Eustaquios Volk der Chipaya auf dem kargen Anden-Hochland Boliviens. Doch erst seit Kurzem spüren sie, dass Klimaextreme auch hier auf mehr als 3.000 Meter Höhe zunehmen.
Extremes Klima verändert das Land
"Von oben kam plötzlich diese Gefahr: Blitz und Donner. Bei Unwettern sind sogar Schafe umgekommen. Das passierte früher nie. Der Regen war nie so heftig und mit so viel Donner", erzählt Eustaquio Mamani, Chipaya-Bauer. Eustaquios Ernte ist futsch, vor allem wegen der Überschwemmungen in diesem Jahr. Auch die anderen Chipaya spüren, wie sich das Klima in ihrer Gegend verändert. "Wir denken manchmal daran, wegzugehen. Denn die Wetterextreme nehmen zu. Erst monatelange Dürre, dann plötzlich Starkregen. So gehen unsere Weideflächen kaputt. Das war früher nicht so", so Flora López, Chipaya-Bäuerin.
Die Anden-Gletscher im Gebiet der Chipaya schrumpfen. Eine Folge der Erderwärmung. Weniger Gletscherwasser sorgt für längere Dürreperioden. Böden und Flüsse trocknen langsam aus.
Über Jahrtausende haben die Chipaya auf diesem kargen Andenplateau überlebt. Nun stoßen sie an ihre Grenzen. Dem trockenen, salzigen Boden hält eine einzige Pflanze stand: Quinoa. Im Land der Chipaya liegt der Ursprung des proteinhaltigen "Superfoods".
Viele jüngere Chipaya verlassen das Dorf
Bislang hat die Nachfrage nach Quinoa dafür gesorgt, dass viele der Ureinwohner ein Einkommen haben. Doch zuletzt wurde durch die Wetterextreme selbst die Quinoa-Ernte zunichte gemacht. Nach plötzlichen Unwettern sind ganze Landstriche der Chipaya überschwemmt. Mit Handys dokumentieren sie, wie eben noch staubtrockene Flüsse über die Ufer treten. Auch Eustaquio hat – wie fast alle im Dorf – durch die Fluten seine Quinoa-Ernte verloren. Der 63-Jährige sagt: Die Jahreszeiten seien irgendwie durcheinander geraten.
"Es wird schlimmer. Die Extreme nehmen zu. Wegen der Fluten wurde dort drüben ein Damm um das Dorf herum gebaut. Ohne den würde das Wasser alle Häuser zerstören", sagt Eustaquio Mamani.
Knapp 2.000 Chipaya leben hier. Die letzten Nachfahren eines der ältesten Völker Südamerikas. Mit einer eigenen Sprache und Kultur, die jetzt aber mehr denn je bedroht ist. Wenn Eustaquio bei seinen Nachbarn zum Mittagessen einkehrt, drehen sich die Gespräche stets um die eigenen Kinder. Diejenigen, die die Schule beendet und dem Dorf der Chipaya und ihren Eltern den Rücken gekehrt haben.
"Es gibt hier immer weniger Arbeit in der Landwirtschaft. Deshalb ziehen viele junge Chipaya weg. Früher blieben die Familien zusammen. Heute nicht mehr, weil man hier keine lukrative Arbeit findet", erzählt Francisco Quispe.
Klimaextreme zerstören traditionelle Lebensgrundlagen
Die Kinder der Chipaya werden zwar mittlerweile in ihrer ursprünglichen Sprache unterrichtet. Doch wenn sie später – weit entfernt zum Beispiel als Minenarbeiter – ihren Lebensunterhalt verdienen, verlieren viele die uralten Traditionen, wie das Flechten der Trachten mit Lama-Wolle. Seit jeher Männersache. "Viele Jugendliche wandern in andere Gegenden von Bolivien ab oder gehen gleich ins Ausland – nach Chile zum Beispiel. Wenn sie nach Jahren zurückkommen, sprechen sie unsere Sprache nicht mehr und verstehen kaum ihre eigenen Großeltern. Sie vergessen ihre Kultur. Wir, die wir weiter hier leben, sorgen uns, ob es mit unserer Sprache bergab gehen wird. Ob es sie in 50 Jahren überhaupt noch gibt", so Remigio Mamani.
Diese Sorge findet auch Eingang in ihre Gebete. Regelmäßig bitten die Anführer der Chipaya Mutter Natur um Hilfe. Für eine gute Ernte und – mehr denn je – für ein milderes Klima. Wenn das ausbleibt, sagt Eustaquio schweren Herzens, bleibe auch ihm bald wohl nichts anderes übrig als auszuwandern.
"Auch ich spiele mit dem Gedanken, meinen Kindern ins Ausland zu folgen. Meine vier Töchter und drei Söhne leben alle in Chile. Nur ich halte es bislang noch hier aus", erzählt Eustaquio Mamani.
Gut möglich, dass die Chipaya das erste Volk sein werden, dass völlig verschwindet, weil Klimaextreme ihre traditionelle Lebensgrundlage zerstören.
Autor: Matthias Ebert / ARD Studio Rio de Janeiro
Stand: 22.09.2019 20:49 Uhr
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