So., 30.06.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
RUSSLAND: Die Rache Putins
Repressalien gegen Oppositionelle
Sechster Juni, Haftprüfungstermin. Von den zwölf Angeklagten sitzen zehn schon über ein Jahr in Untersuchungshaft. Auch heute werden sie ihre Freunde und Eltern nicht sehen: Geschlossene Sitzung. Einigen drohen bis zu zehn Jahren Haft: "Aufruf zu Massenunruhen", "gewaltsamer Widerstand gegen die Staatsgewalt" heißt die Anklage. Auch die Medien müssen draußen bleiben.
Vor dem Moskauer Stadtgericht warten Angehörige und Unterstützer, ohne allzu große Hoffnung: "Politische Gefangene freilassen" steht da. Gefilmt wird auf beiden Seiten, von der Polizei und den Medien. Natalia Kawkaski hat auch einen Sohn da drinnen. Um Politik hat sie sich nie gekümmert, bis ihr Sohn plötzlich verhaftet wurde. Nikolai, 26, hat Cello und Jura studiert.
In der Stadt stille Solidaritätsbekundungen mit Mindestabstand: Gruppenproteste müssen genehmigt sein.
Ein Polizist hat unbemerkt mitgeschrieben, geht dann wortlos weg. Das Gefühl ständiger Überwachung soll vermutlich einschüchtern.
Rückblick: Friedlich begann die Demonstration am 6. Mai 2012, gegen Putin und seine dritte Amtszeit als russischer Präsident. Doch dann begann die Konfrontation: 13.000 Spezialkräfte, viele aus entfernten Landesteilen eingeflogen. Eine regelrechte Orgie von Gewalt und Verhaftungen beginnt, inszeniert, so eine Untersuchungskommission, von den Sicherheitskräften.
Inzwischen haben Fahnder, Journalisten und Menschenrechtler unzählige Videos ausgewertet: Hier die Schlüsselszene mit Natalias Sohn Nikolai.
Dmitri arbeitet für eine Internetzeitung: Er hat alle verfügbaren Videos und Fotos gesammelt. Sein Material hilft den Verteidigern der Angeklagten, deren Bewegungsprofile auf der Demonstration nach zu vollziehen. Auch das von Nikolai.
Nikolai, zeigen die Bilder, war aufgeregt angesichts der Polizeigewalt.
Ihr Sohn ist unschuldig, glaubt auch Natalia. Sie fühlt sich an die Schauprozesse unter Stalin erinnert, sagt sie uns. Einmal pro Woche bringt sie ihrem Sohn Medikamente und Gemüse in die Untersuchungshaft. Das Butyrka ist eine gefürchtete Adresse.
Inzwischen hat Nikolai Gallen- und Leberprobleme, er bekam hier Bluthochdruck, eine Allergie, er hat ständig Kopfschmerzen.
Nikolais Anklage ist besonders haltlos: Der Polizist, den er verletzt haben soll, wurde nie gefunden.
Überall in Moskau sitzen Eltern, die um ihre Söhne kämpfen. Einer von Ihnen: Victor Sawjojow. Sein Sohn Artjom wurde hier, in der Wohnung verhaftet, erst Wochen nach der Demonstration. 24 Stunden lang suchte er ihn verzweifelt in ganz Moskau, bis er ihn im Polizeihauptquartier fand.
Auch Victor hat mit Hilfe unzähliger Internetvideos minutiös nachvollzogen, wo sein Sohn an diesem Tag war: Artjom schaute nur neugierig zu.
Artjom wird verhaftet, dann aber schnell wieder freigelassen, weil nichts gegen ihn vorlag. Erst dann, Wochen später, die erneute Verhaftung und ein seltsamer Vorschlag eines Ermittlers, an Victor, den Vater.
In der kleinen Wohnung lebte er mit Artjom alleine. Seine Frau starb vor kurzem.
"Artjom“, meint er verbittert, "soll angeblich zum Umsturz aufgerufen haben. Dabei stottert er so stark, dass er kaum seinen Namen raus kriegt.“
Die Nachbarn haben umgerechnet 15.000 Euro für Artjoms Kaution gesammelt. Das ist viel Geld in dieser Gegend.
Artjom ist 32, sein Foto ist oft zu sehen bei der Demonstration am 12. Juni. „Das ist unsere Stadt!“, ruft Victor. Musiklehrerin Natalia musste sich ein Herz fassen, es ist ihre erste Demo. Ein paar Tausend sind es heute nur, ein Bruchteil der großen Protestbewegung im vergangenen Mai, die so viele Teilnehmer hinter Gitter brachte.
Dieselben Uniformen, schlechte Erinnerungen, für einen kurzen Moment sieht es wieder nach Konfrontation aus: In zwei Reihen haben sich Ordnungskräfte gestaffelt, die hintere kurz vor dem Kreml. Doch heute bleibt alles friedlich am Bolotnaja-Platz. Hier wurden ihre Söhne vor gut einem Jahr verhaftet. Es hat ihr Leben schlagartig verändert.
Natalias Sohn ist einer der ersten, der am Montag beim Prozessauftakt in den Glaskäfig geführt wird. Artjom kommt gleich danach. Zwei junge Moskowiter, die vermutlich für Jahre in Straflagern verschwinden werden.
Das Fernsehen muss wieder draußen bleiben. Die wenigen Bilder stellt das Gericht. Selbst die Rechtsanwälte befürchten einen politischen Schauprozess.
Waage und Schwert – doch dass hier wirklich Recht gesprochen wird, bezweifeln viele. Freisprüche sind im russischen Strafrecht eine exotische Ausnahme.
Autor: Udo Lielischkies, ARD Moskau
Stand: 15.04.2014 11:08 Uhr
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