Mo., 23.10.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Brasilien: Drachenkampf mit scharfer Leine
Der Wind bläst kräftig über der Favela Rocinha. Dann ist Igor immer auf dem Dach.
Drachenkampf als Ablenkung
"Seit ich sieben Jahre bin, lasse ich Drachen steigen. Zusammen mit meinen Freunden", erzählt Igor Campos da Silva. "Wenn du was Böses denkst, dann lenken dich die Drachen ab. Mich machen sie immer fröhlich", sagt Emerson. Igor und seine Freunde leben weit oben in der verwinkelten Favela. Der beste Ort, um Drachen steigen zu lassen. Aber auch weit weg vom Zentrum der Favela im Tal. Wer hier nicht geboren wurde, verirrt sich schnell. Eine Welt für sich, arm, eng und meistens laut.
Preiswertes Vergnügen
Eine halbe Stunde brauchen wir, dann sind wir da: Im Drachenladen von Antonio, dem besten, wie sie versichern. Antonio lebt vom Drachenbauen. Pipa heißen sie auf Portugiesisch.
"Ich muss schauen, ob der Stab gerade ist. Der Hauptstab in der Mitte muss gerade sein, sonst taumelt die Pipa nur. Wenn der krumm ist, hat es keinen Sinn", sagt der Drachenbauer Antonio Ferreira (Kiera).
Ein bisschen Fachsimpeln, ein bisschen Rumhängen. Die Jungs und der Drachenbauer kennen sich. Ein paar Bambusstäbe und Seidenpapier, je bunter, desto besser – mehr braucht es nicht.
Die Pipas sind ein preiswertes Vergnügen. Der Teuerste kostet umgerechnet 80 Cent. Das können sie sich auch hier im Armenquartier leisten.
"Beim Drachensteigen vergisst du alles. Du konzentrierst dich nur darauf, auf die Drachen. Wenn du mit jemandem Krach hast oder Wut oder Sorgen hast, dann musst du nur aufs Dach gehen und einen Drachen steigen lassen. Da gibt es nur dich und die Pipa, nichts kann dich dann mehr ärgern", so Antonio.
Drogenbanden beherrschen Favelas
Das hören wir immer wieder: Um hier zu überleben, braucht es Ablenkung.
Drogenbanden beherrschen die Favela. Ohne ihre Genehmigung könnten wir nicht drehen. Nichts passiert hier ohne ihr Wissen. Deshalb sind wir auch auf Ricardo angewiesen, er begleitet uns. "Wenn die Polizei hier reinkommt, haben sie früher Drachen steigen lassen, um alle zu warnen. Heutzutage verwenden sie aber Feuerwerkskörper oder Funkgeräte", erzählt Ricardo Ramos.
Und so weiß auch jeder, dass wir hier drehen. Ein betrunkener Rapper will uns die Schönheit seiner Favela besingen. Dass seine Freunde in unserem Rücken schwer bewaffnet sind, dürfen wir nicht zeigen.
Armut und Ausweglosigkeit
Das Leben hier ist brutal, sich dem zu entziehen fällt schwer. Eine der höchsten Mordraten der Welt. Zur Armut kommt die Ausweglosigkeit. Wer hier aufwächst, stirbt auch hier. Aus Rocinha kommen die Putzfrauen und Hilfsarbeiter von Rio – und die Drogendealer.
"Ich danke Gott, dass meine Söhne nur Drachensteigen lassen – manchmal gehen sie auch surfen. Sie machen nichts Falsches, das beruhigt mich. Wenn sie spät nach Hause kommen oder es mal wieder eine Schießerei gibt, darüber mache ich mir Sorgen. Aber Mist bauen sie nicht, da bin ich sicher", sagt Igors Mutter Michelle Campos.
Die Schule hat Igor trotzdem geschmissen. Sie lag in einem Viertel, das von einem anderen Drogenbaron kontrolliert wird. Da wurde es zu gefährlich.
"Manche meiner Freunde sind vom Leben enttäuscht", sagt der 14-Jährige. "Manche haben auch schon Kinder. In meinem Alter, aber keine Ausbildung: Die gehen dann zur Drogenmafia", erzählt Igor.
Aufgerüstete Drachenkämpfe
So verwundert es nicht, dass Drachensteigen – eigentlich ein Kinderspiel – in der Favela die Unschuld verliert. Mit dem zerstoßenen Glas rüsten sie ihre Pipas auf. "Am besten sind Neonröhren, die kann man besonders fein mahlen. Manchmal nehmen wir aber auch Eisenspäne. Aber wenn die Drachen in die Stromleitungen kommen, dann bekommt man einen Stromschlag", sagt Ricardo. Glasstaub zusammengemischt mit Leim. Diese Mischung kommt vorsichtig an die Drachenschnur. Nach dem Trocknen ist die dann messerscharf. Genau richtig für das, was dann kommt.
"Wenn du es schaffst die Leine eines anderen durchzuschneiden, gehört die Pipa danach dir", erzählt Igor.
Das ist ein richtiger Luftkampf. Leise aber voll konzentriert. Am Ende bleibt ein Drache in der Luft. Der von Igors Freund.
"Je mehr Drachen du erbeutest, umso größer bist du. Du bist der König.
Nein, Mitleid habe ich nicht. Wenn wir schwach sind, denn erbeuten sie unsere Drachen. Warum soll ich Mitleid haben", fragt Igor.
Das lernen schon die Kleinen. Und sie lernen schnell in der Favela.
Bericht: Ulli Neuhoff /ARD Studio Rio De Janeiro
Stand: 31.07.2019 07:17 Uhr
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