So., 10.09.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Chile: Der Traum von einem gerechten Land
Als am 11. September 1973 General Pinochet mit dem Militär die sozialistische Regierung stürzte, platzte für viele Chilenen ein Traum. 50 Jahre ist das her, eineinhalb Jahrzehnte Militärdiktatur, die viele Chilenen ins Exil trieben. Wie zum Beispiel die Familie von Claudia Vera Troncoso. Sie kehrten erst 1990 aus Deutschland zurück. Ihr Traum: Jetzt endlich an einem gerechten Chile mitzuarbeiten. Ein Kampf, den sie immer noch kämpfen. Denn noch immer sind viele aus dem Regime mächtig und Chile weit entfernt von einem "gerechten Land".
Erinnerungen an den Militärputsch
Zu Kaffee und Kuchen bringen Consuelo und ihr Sohn Bastian heute Fotoalben aus dem Haus der Großmutter. Die Familie trifft sich oft sonntags bei Consuelos Mutter Claudia. Aber kurz vor dem 50. Jahrestag des Militärputsches, ist das kein ganz so fröhliches Zusammensein, wie sonst. Zwei der vier Generationen hier sind Opfer der Militärdiktatur. Weil die Eltern Sozialisten waren. Schmerzhafte Erinnerungen an Verfolgung, Haft, Exil in der früheren DDR, wo Claudia studierte, und deutsch lernte. Der Verlust von Claudias Bruder kurz nach dem Putsch, weil er in einer sozialistischen Jugendorganisation aktiv war. "Mein Bruder wurde am vierten Oktober umgebracht und zwei Tage später wurde meine Mutter verhaftet. Mein Vater war schon im Gefängnis, unser Haus wurde immer wieder durchsucht."
Dramatische Szenen, die sich am 11.September 1973 in Chiles Hauptstadt abspielen. Das Militär rückt an, um die sozialistische Regierung unter Präsident Allende zu stürzen. General Augusto Pinochet steigt zum neuen starken Mann auf. Und er stürzt Chile ins Chaos. "Es war schrecklich" berichtet Sira Troncoso. "Und ich wusste, wenn sie uns nicht gleich töten würden, dann würden sie uns nach und nach töten. Irgendwann würden sie uns fertig machen. "Nach drei Jahren durfte die Familie das Land verlassen. 20 Jahre Exil in Cottbus und Berlin. Nach dem Ende der Militärdiktatur Neuanfang in der alten Heimat, Hoffnung auf ein gerechteres Land. Aber das Erbe der Militärs wiege immer noch schwer. "Ich ziehe hier meinen Sohn in einem schwierigen Land auf und versuche sicherzustellen, dass er mit der Geschichte aufwächst und die Erinnerungen nicht vergisst", sagt Consuelo Saavedra. "Das, was unsere Familie durchlebt hat. Und nicht nur unsere Familie, sondern tausende Familien in diesem Land."
Noch immer keine konsequente Aufarbeitung
Die Diktatur endet 1990. Die Wunden aus der Zeit sind immer noch tief. Eine richtige Aufarbeitung hat bis heute nicht stattgefunden. Viele junge Chilenen wissen nur wenig von Pinochets Staatsstreich und den mehr als 2.000 Ermordeten. Am Präsidentenpalast rekonstruiert ein Journalist die Geschehnisse von damals. 50 Jahre danach. Eine Videoproduktion, damit Chiles dunkle Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät. "Wir arbeiten an einem dynamischen Format", sagt Cristian Rojas, "erzählen so die Geschichte modern. Damit die junge Generation alles besser begreifen und nachvollziehen kann, was hier los war."
1.100 Opfer der Militärdiktatur werden immer noch vermisst. Hier wurden Menschen verhört, gefoltert, getötet. Eines von mehr als tausend Folterzentren im Land. Wie Londres 38, mitten im Stadtzentrum von Santiago. Hier wurde Erika Hennings gefoltert. Auch ihr Ehemann, der dann 1974 verschleppt wurde, seitdem fehlt von ihm jede Spur. "Sie haben Leute inhaftiert, die militant waren. Sie wollten in der Lage sein, uns beiseitezuschaffen, um ein Land nach ihren Vorstellungen zu schaffen. Und das haben wir heute noch. Ein Land mit miserablen Renten, einem miserablen Gesundheitssystem und schlechter Bildung."
Auch heute noch Gewalt im Alltag
Wirtschaftlich gilt Chile als stabiles Land in Lateinamerika, aber der Wohlstand ist extrem ungerecht verteilt. Solche Armenviertel wie la Poblacion la Victoria gibt es viele. Seit ihrer Rückkehr nach Chile engagiert sich Claudia für Ärmere. Mittendrin in sozialen Brandherden sollen Kinder hier die Chance für ein annähernd normales Leben wenigstens für ein paar Stunden bekommen. Das Ziel, "dass sie Bildung auch bekommen, Vorschulbildung und auch Ernährung. Und vor allem sehr viel Liebe", so Claudia Vera Troncoso. Besprechung mit den Mitarbeiterinnen des Kindergartens. Immer wieder Berichte aus der Nachbarschaft, Gewalt, Missbrauch, Drogenhandel, Schießereien.
Heute kriminelle Banden, damals mordeten hier die Schergen Pinochets. Das sollen schon die Jüngsten wissen. Gewalt gehört zu ihrem Alltag, deshalb sprechen sie auch darüber. Damit sich das nie wiederholt. "Mit solchen Aktivitäten sollen die Kinder den Ort kennen, wo ein Priester ermordet wurde, ein Mensch, der für Frieden war. Auch die Familien der Kinder werden natürlich informiert und sind auch dafür, dass ihre Kinder hierherkommen." Ein Priester, der sich gegen die Pinochet Diktatur stellte, ein Mann, der den Militärs deswegen gefährlich wurde und dafür sterben musste.
Erinnerungsarbeit, die dringend nötig ist, denn mehr als 30 Jahre nach der Militärdiktatur befürwortet ein Drittel der Chilenen Pinochets Staatsstreich. Und mehr noch, rechte Politiker im Parlament haben erst vor ein paar Tagen den Putsch von 1973 gerechtfertigt. Das macht Claudia Angst. Ihre Tochter Consuelo ist ebenso besorgt über die politischen Entwicklungen. Deshalb ist sie Teil der Sozialbewegungen der letzten Jahre, als Zehntausende protestierten. "Ich denke, es ist sehr wichtig zu marschieren. Einige Male hat mich sogar meine Großmutter begleitet. Um für Veränderungen zu demonstrieren." Die meisten Täter der Militärdiktatur wurden bis heute nicht bestraft. Lange auch die Mörder von Claudias Bruder nicht. "Wir haben 50 Jahre lang gelebt mit dem Gefühl von Ungerechtigkeit und das gibt uns niemand zurück, diese 50 Jahre", sagt Claudia Vera Troncoso. Im März dann doch die Verurteilung der Mörder des Bruders. Ein bisschen Gerechtigkeit. Aber die Aufarbeitung der Verbrechen ist 50 Jahre nach dem Militärputsch noch lange nicht abgeschlossen.
Autor: Michael Stocks, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 11.09.2023 10:25 Uhr
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