So., 24.11.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Dänemark: Abschreckung von Geflüchteten
Im Kern geht es darum, das Land so wenig attraktiv wie möglich für Geflüchtete zu machen. Das zumindest sagen Kritiker. Massenunterkünfte, die teilweise den Charakter von Gefängnissen haben. Eines ist so berüchtigt, dass der Europarat Inspekteure geschickt hat. Ihr verheerendes Urteil: "russische Gefängnisse sind besser". Und auch sonst werden Asylbewerbern viele Auflagen gemacht, um sie so zur Ausreise zu bewegen. Im deutschen Wahlkampf wird dieses Modell von Friedrich Merz und Jens Spahn als das "dänische Modell" gelobt.
Leben im offenen Vollzug
Fahrt durch die dänische Provinz. An einen Ort im jütländischen Niemandsland. Hinter diesem Tor: das so genannte "Ausreisezentrum" Kærshovedgård. Dänemarks Lager für alleinstehende, nicht gewollte Migranten. Zum Beispiel für abgelehnte Asylbewerber wie Yasin. Der 36-Jährige lebt hier quasi im offenen Vollzug. Jede Nacht hinter Gittern. Seit sieben Jahren geht das so. Tagein, tagaus. "Wir dürfen hier gar nichts. Es ist wirklich hart. Dänemark ist ein Land der Möglichkeiten. Aber nicht, wenn man hier in Kærshovedgård lebt. Hier bist Du auf Dich allein gestellt." Der Alltag im Lager für mehr als zweihundert Insassen sei deprimierend, erzählt Yasin. Eine Matratze, drei Mahlzeiten und strenge Regeln. Die Botschaft hier ist einfach zu verstehen: Geflüchtete sollen Dänemark wieder verlassen.
Busbahnhof Herning, die nächste Stadt. In seine Heimat Iran zurückkehren kann Yasin nicht, selbst wenn er wollte. Es existiert kein Rückführungsabkommen. Ein Leben in der Endlosschleife. Er spricht gut dänisch, möchte arbeiten, seine dänische Freundin treffen. Einmal hat er bei ihr übernachtet. "Morgens um 7 Uhr kamen drei Polizisten ins Zimmer. Sie haben gesagt: pack die Zahnbürste und Klamotten ein, Du bist festgenommen. Ich habe gefragt: warum? Du hast unangemeldet woanders übernachtet." Dieses elektronische System hatte den Verstoß registriert. Die Folge: drei Monate Gefängnis.
"Akzeptiere, dass Du in diesem Land keine Zukunft hast"
Hauptstadt Kopenhagen. Das Image des Landes: liberal, smart und hygge – gemütlich. Gleichzeitig verschärft Dänemark seit Jahren seine Ausländer-Gesetze. Diskutiert sogar den Ausstieg aus EU-Regelungen. Das Ziel: maximale Kontrolle über Migranten. Und "null Asylanträge", wie es die dänische Regierung vor einigen Jahren formulierte. Begründung: Zuwanderung gefährde den dänischen Wohlfahrtsstaat. Der Kurs ist populär. So gewinnt man in Dänemark Wahlen.
Treffen mit Migrationsminister Kaare Dybvad. Der Sozialdemokrat ist stolz auf seine Bilanz. Tatsächlich ist die Zahl der Asylanträge in Dänemark stark gesunken. "Wir sind erfolgreich, was abgelehnte Asylbewerber angeht. Wir sind eines der besten Länder in Europa, wenn es darum geht, Menschen nachhause zu schicken. Orte wie Kærshovedgård sollten nicht so gestaltet sein, dass man gerne hier in Dänemark bleibt. Sie sollen klarmachen: Du bist unerwünscht. Akzeptiere, dass Du in diesem Land keine Zukunft hast."
Russische Gefängnisse sind besser
Ein militärisches Sperrgebiet vor den Toren Kopenhagens. "Zentrum für Ausländer" nennt der dänische Staat Ellebæk. Faktisch ein Abschiebe-Gefängnis. Weiter annähern dürfen wir uns nicht. Material des dänischen Fernsehens, das die Zustände bereits vor Jahren dokumentiert hat. Bauliche Mängel, unhaltbare hygienische Bedingungen, mangelnde medizinische Versorgung. Für die Insassen eingeschränkter Zugang zu frischer Luft. Der Europarat sendet Inspekteure. Ihr verheerendes Urteil: "russische Gefängnisse seien besser". Ellebæk sei eine der schlimmsten Anstalten Europas.
Einer, der in Ellebæk saß. Martin aus Uganda. Bei einer Polizeikontrolle in Kopenhagen nennt er aus Angst einen falschen Namen. Ein Regelverstoß. Trotz seines laufenden Asylverfahrens wird er sechs Monate in Ellebæk inhaftiert. "Es war traumatisierend. Dieses Gefühl, jeden Tag mit Gewalt abgeschoben werden zu können. Das versetzt Dich in Angst und Schrecken. Du kannst nachts nicht schlafen, Du hast Albträume. Es klopft an der Zellentür und Du denkst: jetzt bin ich dran. Wie an einer Schlachtbank."
Martin hält durch. Aktivisten besorgen ihm einen Anwalt. Er kommt frei und erhält Asyl in Dänemark. Wohl für immer bleiben werden: die Bilder aus Ellebæk. Die Verhältnisse seien noch immer so wie auf dem TV-Material und vom Europarat beschrieben. Verhältnisse wie in Russland? Nachfrage beim zuständigen Migrationsministers. "Ich weiß nicht, ob der Europarat je in einem russischen Gefängnis war", sagt Migrationsminister Kaare Dybvad. "Ich war noch nicht da, also kann ich das nicht kommentieren. Salopp gesagt, das darf doch kein Ferienlager sein. Kein Ort, der Spaß macht."
Freundliche Menschen – eiskalte Politik
Zurück in der Provinz. Die örtliche Kirche lädt einmal pro Woche Menschen aus dem Lager Kærshovedgård ins Gemeindehaus. Auch Yasin ist regelmäßig hier. Einer der wenigen Momente, die ihm Kraft geben. "Hier kann ich wirklich abschalten und das gibt mir ein wenig Frieden. Hier sind viele liebe Menschen. Ich fühle mich frei, es ist fantastisch." Seit vielen Jahren organisiert das Treffen Anna Lisbeth Sonne. Hunderte Insassen von Kærshovedgård hat sie kommen und gehen sehen. Vielen von ihnen seien inzwischen untergetaucht, versuchten ihr Glück anderswo in Europa.
"Unsere gnadenlose Politik funktioniert. Die Zahlen gehen runter. Eigentlich sind die Dänen sehr freundliche Menschen. Aber die dänische Politik ist eiskalt." Für einen Moment scheint heute Abend die Kälte vergessen. Doch nicht lange. Um 23 Uhr müssen die Insassen von Kærshovedgård wieder im Lager hinter Gittern sein. Hygge, die dänische Gemütlichkeit, ist für sie nicht vorgesehen.
Autor: Kristopher Sell, ARD-Studio Stockholm
Stand: 25.11.2024 14:49 Uhr
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