So., 21.01.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ecuador: Wie im Bürgerkrieg
Der junge Präsident Noboa geht aufs Ganze, er bringt das Militär auf die Straßen. Wahrscheinlich seine einzige Chance, die Spirale der Gewalt in Ecuador zu durchbrechen. Drogenbanden haben das Land unter Kontrolle, unterwandern staatliche Institutionen. Die Regierung hat mit Ausnahmezustand und Kriegsrecht reagiert. Drogenbanden gelten jetzt als Kriegspartei und sollen "vernichtet" werden. Das öffentliche Leben ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Schulen sind geschlossen, Geschäfte öffnen täglich nur kurz. Ecuador ist derzeit fast unbewohnbar.
Ein Land in Angst und Schrecken
Am Tag als der Terror nach Ecuador kommt, nehmen schwer bewaffnete Männer Geiseln in einem Fernsehstudio, andere belagern Universitäten und Schulen, stecken Autos in Brand, bringen Polizisten in ihre Gewalt und geben vor, sie hinzurichten – sie versetzen 17 Millionen Ecuadorianer in Angst und Schrecken. Francesca darf erstmal nicht in die Schule – zunächst für eine Woche sind alle Schulen im Land zu. Auch ihre große Schwester Maria-Gracia hat Onlineunterreicht und die Eltern arbeiten von zuhause. Nur die zwei großen Brüder sind in der Uni.
Hier in der Hauptstadt Quito ist nach den Anschlägen wieder etwas Ruhe eingekehrt, sein Haus verlässt trotzdem nur, wer unbedingt muss. "Wir haben Angst, keine panische Angst, sondern eine kluge Angst, die uns schützt", sagt Ligia Viteri "Wir stellen uns auf die neue Situation ein, respektieren die neuen Regeln und versuchen die Ruhe zu bewahren." Ligia Viteri ist Schulärztin, ihr Mann Richard Architekt. Ihre beiden Söhne waren auch an jenem 9. Januar in der Universität, als die Drogenbanden an vielen Stellen im Land gleichzeitig zuschlugen. "Sie hätten mit dem Bus fahren müssen", erzählt Richard Viteri ." Wir haben im Fernsehen gehört, dass Busse auch überfallen wurden. Irgendwann habe ich sie am Telefon gehabt. Sie haben sich auf einer meiner Baustellen versteckt. Von dort habe ich sie dann abgeholt. "
22 Drogenbanden kämpfen um die Macht
In Ecuador kämpfen 22 Drogenbanden mit insgesamt 30.000 Mitgliedern um die Macht über verschiedene Landesteile. Noch vor wenigen Jahren galt das Land als eines der sichersten in Lateinamerika. Als vor knapp zwei Wochen die Gewalt eskaliert, mobilisiert die Regierung das Militär. Gefängnisse werden gestürmt, weil Drogenbosse von hier aus ihre schmutzigen Geschäfte befehligen. Bis heute werden gut 2.500 Verdächtigte festgenommen, doch die Banden schlagen zurück, erschießen einen Staatsanwalt. Der hatte die Ermittlungen zu der Geiselnahme in einem Fernsehstudio in Guayaquil geleitet. Bandenmitglieder nahmen hier zahlreiche Journalisten als Geiseln. Vor laufenden Kameras flehen sie um ihr Leben.
Eine von ihnen, die Redakteurin Alina Manrique. Die Polizei hat sie und ihre Kollegen befreien können, aber der Schreck sitzt tief. "Einerseits war ich sicher, ich würde jetzt sterben. Andererseits habe ich Gott um mein Leben angefleht, weil ich nicht wollte, dass das mein letzter Tag auf Erden ist, dass das das letzte ist, woran ich denke, und dass diese Bilder das letzte sind, was meine Kinder von mir sehen. " Sie weiß noch nicht, sagt sie, wie welche Spuren bleiben werden. Sie erschreckt sich bei jedem lauten Geräusch und sie spielt mit dem Gedanken, Ecuador zu verlassen. Zu traumatisch waren die Momente, bis die Geiselnehmer überwältigt wurden. "Ein Polizist half mir hoch, er legte eine Decke um mich und da wusste ich, ich habe ein neues Leben."
Schulen sind zu, Läden haben kaum Kundschaft
Diego Gallardo hat diesen Tag nicht überlebt. Als er zusammen mit seiner Frau die Bilder der Geiselnahme im Fernseher sieht, fährt er sofort los, um seinen Sohn aus der Schule zu holen. "Als er unterwegs war, habe ich immerzu versucht ihn anzurufen", erzählt seine Frau Camille.
"Irgendwann ging ein Polizist an sein Telefon und sagte mir, er sei mit dem Auto in eine Schießerei geraten. Ein Querschläger habe ihn getroffen und man habe ihn in die Notaufnahme gebracht, weil er sehr viel Blut verliert. Wenig später rief mich das Krankenhaus an, um mir zu sagen, dass Diego gestorben ist." Diego Gallardo war Sänger und Songschreiber, er starb mit 31 Jahren. In seinem letzten Lied, erzählt seine Frau, habe er seinen Tod vorausgesagt: "Ich bin gegangen", singt er, "erklären kann ich es nicht, denn ich habe es nicht selbst entschieden".
In ganz Ecuador geht der Terror danach weiter. Auch für die Viteris, die den traumatischen Tag vergleichsweise glimpflich überstanden haben. Wenige Minuten von ihrem Haus entfernt explodiert eine Bombe, beschädigt eine Fußgängerbrücke unter der ihre Söhne oft auf den Bus warten. "Ich denke, dass kann jeden Moment wieder passieren und das ist genau das, was die Attentäter wollen, Unsicherheit bei uns auszulösen", sagt Ligia Viteri. Wegen dieser Unsicherheit wagte sich tagelang kaum jemand auf die Straße. Je länger sie anhält, desto mehr wird sie das Land destabilisieren.
"Der Markt leer und das Geschäft läuft nicht mehr", klagt die Schuhverkäuferin Soyla Urgilescalle. "Ich habe Angst jetzt hier zu arbeiten, aber wenn ich nicht arbeite, haben wir nichts zu essen", sagt Taxifahrer Sabip Suraty, Taxifahrer. "Ich hoffe, dass sich das bald löst und der Staat die Kontrolle zurückgewinnt." Solange der Staat die Lage nicht vollständig kontrolliert, wird Francesca wohl zuhause lernen. Mittlerweile sind ihre Brüder aus der Uni nach Hause gekommen – Aufatmen bei der Familie. Das harte Durchgreifen der Regierung sehen die Viteris als einzige Chance für ihr Land. "Ich denke die Reaktion des Präsidenten ist richtig", meint Elias Viteri, "denn man sieht bereits Ergebnisse. Ich denke nur so werden wir bald wieder in Frieden leben können. "Es ist ihr tiefer Glaube, so sagen sie, der ihnen durch diese harte Zeit hilft. Und es ist ihre Angst, die sie beschützt.
Autor: Peter Sonnenberg, ARD-Studio Mexiko
Stand: 22.01.2024 11:47 Uhr
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