Mo., 12.10.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Keine Zukunft für Flüchtlinge
Nach dem verheerenden Anschlag in Ankara, stellt sich jetzt die Frage, wie sicher die Türkei insgesamt noch ist. Befindet sich das Land vor einer Welle von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Religiösen und Moderaten, zwischen Türken und Kurden?
Radio gemacht von Flüchtlingen für Flüchtlinge: Seit zwei Jahren ist "Radio Soutraya" die arabische Stimme in Äther und Internet Istanbuls. Zwölf Techniker und Journalisten werden durch Spenden finanziert. Das Dauerthema: Die Sorgen und Hoffnungen der rund zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei. Etwa 400.000 von ihnen leben in Istanbul. Damit stellen syrische Flüchtlinge inzwischen rund drei Prozent der Bevölkerung der Stadt am Bosporus.
Viele Syrer wollen nach Europa
Chefredakteurin Alisar Hasan geht davon aus, dass jeder Zweite von ihnen sich, zumindest in Gedanken, mit einer Flucht nach Europa beschäftigt: "Meine Landsleute wollen in einem stabilen Land leben! Sie wollen ihre Kinder auf Schulen schicken, ihnen eine Zukunft bieten! Und natürlich hoffen sie für sich selbst gute Jobs zu finden. Das – und nicht Geld – ist es, was viele von hier nach Europa treibt."
Istanbul, wie es jeder Tourist kennt: der Stadtteil Fatih im Zentrum der 15-Millionen-Metropole. Doch, nur wenige Meter weiter ist man in einer anderen Welt: Man fühlt sich plötzlich ein wenig wie in Syrien – 1001 Nacht lässt grüßen. Die Darussafaka-Straße ist Treffpunkt für Syrer im Exil in Istanbul. Die meisten von ihnen kamen, um für ein paar Monate dem Krieg zu entfliehen. Doch viele sind nun Jahre hier – und werden wohl auf unabsehbare Zeit Flüchtlinge bleiben.
Flucht aus Palmyra
Mohammad Ahmat traf vor einem Monat in Istanbul ein. Er ist aus dem syrischen Palmyra geflohen. Nahe den historischen Stätten, die in den letzten Wochen vom selbsternannten "Islamischen Staat" zerstört wurden, hatte er ein Hotel. Zwei Kinder sind mit Mohammed Ahmat gekommen. Söhne und eine Tochter hat er im syrischen Bürgerkrieg verloren.
Mohammad Ahmat klagt über die schlechte Arbeitssituation: "Ich habe mich wieder und wieder beworben, vor allem bei Restaurants. Ich würde auch als Tellerwäscher für wenig Geld arbeiten. Doch: Niemand will mich einstellen."
Da Mohammed Ahmat keine Arbeit findet, muss er vom Erlös seines verkauften Goldes leben. Nur wenige Meter von der syrischen Straße entfernt hat er für etwas mehr als 100 Euro monatlich eine 15 Quadratmeter große Wohnung für seine vierköpfige Restfamilie gefunden. Doch jetzt geht ihm das Geld aus. So ist seine Zukunft ungewiss und sein großer Wunsch scheint unerfüllbar: "Ich wünsche so sehr, ich könnte nach Europa gehen. Aber ich kann mir das einfach nicht leisten. Und ich will es nicht illegal tun. Ich will nicht das Leben meiner Familie aufs Spiel setzen!"
Hilfe für die Flüchtlinge
In unmittelbarer Nachbarschaft der syrischen Straße: die Hilfsorganisation "Olama sham" – finanziert durch Spenden. Wer an syrische Flüchtlinge in der Türkei denkt, denkt an Zelt- und Containerlager. Dabei leben dort gerade mal 270.000. Fast zwei Millionen aber wohnen zur Miete, bei Freunden und Verwandten oder unter freiem Himmel. Sie bekommen praktisch keine staatliche Hilfe. Hier gibt es wenigstens in regelmäßigen Abständen ein Nahrungspaket. 27.000 Familien sind hier registriert. Etwa 2.000 beziehen Unterstützung.
Abu Osama von der Hilfsorganisation "Olama sham" weist auf das harte Leben der Flüchtlinge hin: "Es ist hart für Syrer hier zu leben, die Mieten zusammen zu bekommen. Besonders schwierig ist es Arbeit zu finden. Zudem braucht man dafür eine Arbeitserlaubnis und die kostet Geld – Geld, das Viele nicht haben!"
Die meisten Hilfssuchenden wollen nicht gefilmt werden. Einerseits ist man stolz, andererseits fürchten jene, die Verwandte in Syrien haben, noch immer die Geheimpolizei Assads. 27 durch Spenden finanzierte Hilfsbüros in Istanbul bieten gebrauchte Kleidung, Medizin, Sprachkurse und ein wenig Schulunterricht für die Kinder.
Flüchtlinge auf der Straße
Trotzdem: Es gibt Obdachlosigkeit unter den syrischen Flüchtlingen Istanbuls – auch wenn diese stark abgenommen haben soll. Wir machen uns auf die Suche nach ihnen. Doch: Wir finden ganz andere Syrer. Diese Gruppe versammelt sich vor ihrer Flucht. Schon morgen soll es für sie nach Griechenland gehen und dann nach Deutschland.
Ein Mann begründet ihre Entscheidung: "Wir waren eine Woche in der Türkei. Wir haben gesehen: Für Syrer ist es hier nicht einfach!"
Zwei Dutzend Flüchtlinge verlassen Istanbul, doch neue sind bereits auf dem Weg hierher. Für Syrer wird Istanbul Ziel und Station zugleich bleiben…
Autor: Michael Schramm, ARD Istanbul
Stand: 09.07.2019 14:18 Uhr
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