Mo., 13.02.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Gaza: Erstmals Proteste gegen die Hamas
"Wir wollen Strom!" – "Wir wollen leben wie Menschen!" Ihre Verzweiflung ist größer als die Angst. Sie demonstrieren, obwohl sie Haft und Folter riskieren. Gegen die radikalislamische Hamas in Gaza. Die ersten großen Proteste seit deren Regierungsübernahme vor 10 Jahren.
Er hat die Massen mobilisiert: Mohamad Al Taloly, 25 Jahre, arbeits- und perspektivlos wie so viele in Gaza – trotz guter Ausbildung. Was dann kommt, hatten sie befürchtet: Die Hamas geht mit Härte dazwischen, schießt in die Luft, Hunderte Demonstranten werden verprügelt, festgenommen.
Mohamad ist unter denen, die fliehen können. Noch am selben Abend kommen die Hamas-Sicherheitskräfte zu ihm nach Hause, um ihn festzunehmen. Handy-Bilder seiner Schwester. Die Dunkelheit, mal wieder kein Strom – diesmal schützt sie Mohamad. Er entkommt seinen Verfolgern. Legt kurz danach aus seinem Versteck via Facebook nach.
"Seit zehn Jahren verrecken wir hier in Gaza! Schluss mit dem Schweigen und Schluss mit dieser Organisation, die uns nicht mal ein Prozent unserer Menschenrechte zugesteht! Ich rede, weil ich die Schnauze voll habe. Dass wir keinen Strom haben, in Armut leben, dass 100.000 Akademiker arbeitslos sind. Wir sagen: Nein zu Hamas. Haut ab!"
Friedlicher Protest statt gewaltsamer Kampf
Drei Wochen später treffen wir Mohamad. Er ist wieder zu Hause im Viertel Dschabalija. Er hatte sich schließlich doch der Hamas gestellt. Sie haben ihn verhört aber nicht verhaftet. Weil sich palästinensische Politiker für ihn bei der Hamas eingesetzt haben. Mit seinen Idolen hat er die Zimmerwand tapeziert. Sein größter Held: Che Guevara. Mit Musik und Fotos präsentiert er sich auf Facebook. Mohamad hat ein Gespür für Inszenierungen. Auch deshalb war die Demonstration so erfolgreich.
"Als ich danach von der Hamas verhört wurde, musste ich am Ende unterschreiben, dass ich keine Demos für Menschenrechte mehr organisiere. Ich habe das mit einem Stift unterschrieben, aber nicht mit meiner Seele und meinem Kopf."
Mittlerweile hat sich Mohamads ganze Familie in seinem Zimmer versammelt. Er selbst ist ledig. Hat 14 Schwestern und Brüder. Sein Vater Nafez hat in der Intifada ein Bein verloren. Der gewaltsame Kampf, sagt die Familie, lohne sich nicht. Deshalb habe sich Mohamad für den friedlichen Protest entschieden. Und er habe keine Angst vor der Hamas, weil er sich nicht gegen Politiker einsetze, sondern für die Menschen.
Enttäuscht von der Hamas
"Den Ausschlag gab, als wir die Nachricht hörten, dass in der Familie El Hindi drei Kinder bei lebendigem Leib verbrannt sind. Die Mutter hatte Kerzen angezündet, weil es keinen Strom gab. Das Bettzeug fing Feuer. Da habe ich mir gesagt: Dass kann bei uns genauso passieren. Das geht so nicht mehr weiter."
Die Beerdigung der drei Kinder, im vergangen Mai, hat die Bevölkerung aufgerüttelt. Schon zuvor war der Frust darüber riesig, dass die Hamas das meiste Geld in die militärische Aufrüstung steckt. In Raketen und Tunnelbau. Die zwei Millionen Einwohner im abgewirtschafteten Gaza-Streifen haben aber nur wenige Stunden am Tag Strom. Dazu kommt die schlechte Wasser- und Lebensmittelversorgung.
Aber von drei Kriegen mit Israel tief traumatisiert und eingeschüchtert durch die Hamas hatte sich mit den miserablen Lebensbedingungen abgefunden. Und folgte der Hamas, die die Schuld dafür allein bei Israel sah. Die Eltern El Hindi. Zwei ihrer fünf Kinder haben überlebt. Die Mutter zog sie im letzten Moment aus dem Flammenmeer. Auch sie tief enttäuscht von der Hamas.
"Der Wohnungsbauminister hat uns diese Beileidsbekundung geschickt und versprochen, uns eine neue Wohnung zu organisieren. Aber dann ist nichts mehr geschehen. Diese Wohnung, haben wir nur vorübergehend. Demnächst stehen wir auf der Straße."
Und weiterhin kochen und heizen sie mit offenem Feuer. Was bleibt ihnen übrig. Die Kinder frieren.
Proteste zeigen Wirkung
Die von Mohamad und seine Freunden organisierten Proteste zeigten Wirkung. Derzeit gibt es 8 Stunden Strom pro Tag. Israel liefert Diesel nach Gaza. Die Türkei und Katar überweisen Geld. Wir haben Mohamad erst wenige Minuten begleitet, da tauchen Hamas-Leute in Uniform und Zivil auf. Uns wird verboten die Jungs weiter zu filmen. Sie sollen sofort nach Hause gehen. Sie wissen, wie grausam die Hamas sein kann. Jetzt sind sie niedergeschlagen. Mohameds Mutter baut sie wieder auf.
"Erst hatte ich auch Angst. Aber seit ich gesehen habe, wie viele Menschen zur Demo kamen, und was sie erreicht haben - bin ich so stolz. Sie haben uns Ehre und Würde wiedergegeben."
Beim Abendessen – wieder mal ohne Strom - ist Mohamad schon wieder in Kämpferlaune: "Wir werden weiter für unsere Menschenrechte protestieren. Wir wissen, dass es dabei auch Opfer geben könnte. Wir sind bereit, diese Opfer zu bringen.“ Denn sie wollen nicht länger die Rechnung für die Politik der Hamas bezahlen."
Autorin: Susanne Glass/ARD Studio Tel Aviv
Stand: 13.07.2019 22:20 Uhr
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