So., 29.09.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Gefährlicher Müll
Selbst Pfarrer Paul verliert langsam den Glauben, nicht hier in seiner Dorfkirche im nordenglischen Shrewsbury. Aber, wenn er seiner anderen Passion nachgeht, draußen in die Gummistiefel steigt und versucht, den Geheimnissen von hochgiftigen Mülldeponien nachzuspüren: Tickende Zeitbomben, wie er sie nennt.
Seit sich ihm ein Insider mal offenbart hat, ist Paul eine Art Müll-Detektiv. Neben dem Acker hier ruht eine stillgelegte Deponie, so groß wie ein Fußballfeld, nun zugeschüttet mit Erde. In bis zu 50 Metern Tiefe lagern verborgen Chemikalien. Einige Fässer aber zeigen ihr Gesicht.
Unbekannte Chemikalien in rostenden Fässern
Pfarrer Paul Cawthorne: "Hier liegen Zehntausende Fässer im Boden. Und sie alle rosten. Man muss sich jetzt vorstellen, was für Mengen an unterschiedlichen Chemikalien sich mischen. Wer weiß was sich da Gefährliches zusammenbraut. Und das Gemisch geht ins Wasser. Furchtbar!"
Was genau hier lagert? So wirklich weiß es niemand. Bis vor ein paar Jahren hat Großbritannien seinen Haus- und Industriemüll – auch hochgiftigen – mancherorts einfach in große Löcher gekippt, die Gruben dann abgedeckt und oft nicht weiter beachtet.
Tausende Deponien laufen nun aus. Paul ist an eine tiefergelegene Stelle gewandert. Auch diese Halde leckt seit Jahren. Paul hat hier PCBs gefunden, ein synthetisches Mittel, das schwere körperliche Schäden verursachen kann.
Laut Behörde gehe von der Deponie keine Gefahr aus. Diese Aussage, sagt Paul, werde er nicht hinnehmen.
Krank durch die Deponien
Die Tatenlosigkeit macht andernorts krank: Im englischen Silverdale riecht es seit dreieinhalb Jahren nach faulen Eiern. Täglich laden Hunderte LKW auf der Deponie Industriemüll ab. Über hundert Verstöße gegen die Betriebsgenehmigung hat die Aufsicht hier schon festgestellt. Der Betrieb läuft aber weiter. Über dem Ort schwebt laut Messungen Schwefelwasserstoff, Gas aus der Deponie.
Rebecca hat Angst um ihren Sohn. Sie ist schon in eine andere Wohnung gezogen, um der schlechten Luft zu entfliehen. Matthew ist ein Frühchen und hat von Geburt an Atemwegsprobleme. Als der Gestank begann, wurde es deutlich schlimmer. Auch Rebeccas Mutter Tina hat schwere Atemprobleme. Wegziehen ist ein Gedanke, der fällt ihnen aber schwer. Die gesamte Familie lebt im Ort, die Bindung wollen sie nicht aufgeben. Und dann kommt wieder ein Schub Gestank.
Kein Aufschrei hilft. Über 10.000 Beschwerden hat es schon gegeben. Lokalpolitiker fordern seit Langem die Schließung, Hausarzt Paul Scott hat offiziell Alarm geschlagen. Er wird überrannt von Patienten, die Juckreize vom Gas haben. Oder nicht mehr schlafen können: "Die Müllkippe ist ja mitten im Ort. Und irgendetwas, was dort reingekippt wird, verursacht die Gase. Es ist kein kleines Problem, von dem Hundert Menschen betroffen sind. Es ist riesig. Es macht Zehntausende krank."
Politisches Versagen: eine Behörde ohne Aufsicht
Die britische Aufsichtsbehörde misst die Belastung im Wohngebiet ständig. Sie sagt auf Anfrage: Sie würde die Deponie umfassend auf Verstöße kontrollieren. Kürzlich musste sie allerdings einräumen, dass ihre Messstationen jahrelang falsch eingestellt waren. Die Belastung im Ort ist seitdem regelmäßig über dem Toleranzwert.
Auswirkungen hat das keine. Im Ort organisieren sie wöchentlich Proteste. Auch Lokalpolitiker mischen mit. Sie würden gerne selbst einschreiten. Das kann aber nur die Aufsichtsbehörde der britischen Regierung.
Nun gibt es Rufe nach einem Untersuchungsausschuss. Der Behörde haben sie nämlich ihre Ergebnisse gemeldet, ohne dass es eine Reaktion gab.
Es stinkt zum Himmel. Pfarrer Paul fühlt sich verpflichtet möglichst viel ans Tageslicht zu bringen. Das lehre ihm ja auch die Bibel.
Autor: Sven Lohmann, ARD London
Stand: 29.09.2024 22:01 Uhr
Kommentare