So., 30.03.25 | 18:30 Uhr
Das Erste
Haiti: Überleben im Bandenkrieg
Der Wahnsinn von Port-au-Prince lässt sich schon beim Anflug erahnen. Heikle Viertel umfliegt der Pilot des Hubschraubers, um ans Ziel zu kommen. Am Boden ist das ARD-Team immer mit schusssicherer Weste unterwegs. Auch wenn sie die kleine Theatertruppe in einem Stadtteil besuchen. Theater spielen, um das Ganze auszuhalten. Denn in Port-au-Prince regieren rivalisierte, hochbewaffnete Baden. 5.600 Tote im vergangenen Jahr, brennende Barrikaden und meterhohe Müllberge. Trotzdem sagt Eilézer Guérismé, der Direktor der Theatergruppe: "Wir sind kein gewalttätiges Volk. Ich denke, wir sitzen in einer Falle." Denn die Realität ist allgegenwärtig, auch in den Theaterstücken, die sie improvisieren. Ihre Art mit dem Wahnsinn von Port-au-Prince umzugehen.
Angst, Wut und Bitterkeit
Der Wahnsinn von Port-au-Prince lässt sich im Anflug nur erahnen. Der Helikopter dreht eine weite Runde, um heikle Viertel zu vermeiden – und möglichen Beschuss. Normale Flugzeuge landen hier derzeit nicht. Wir sind im schusssicheren Auto unterwegs. In der Nähe brennen heute Barrikaden. Verzweifelte Anwohner versuchen, brutale Gangs so abzuschrecken. Wir kommen fast zu spät, zu Eliézer und seinem Workshop. Trotz Chaos draußen spielen sie in einem kleinen Hinterhof Theater. "Das ist ein Querschläger, der vor einiger Zeit bei mir auf dem Bett gelandet ist". Damit sollen meine Schüler jetzt improvisieren, persönliche Geschichten erzählen, die mit der Kugel nichts zu tun haben sollen."

Auf der Veranda warten unsere Bodyguards. Drinnen improvisieren seine Schüler: Angst, Wut – auch Bitterkeit kommen hoch. In dieser Gesellschaft, singt Emilia, ist jeder schon wie tot. "Die Kunst, das Theater, all das hilft uns", sagt Emilia. "Wir können das ausdrücken, was wir in uns tragen, bleiben dadurch in Balance." Und George meint: "Es ist ein Ausweg aus dem ganzen Stress, dem wir ausgesetzt sind, Wir wollen leben, wir sind jung, wir wollen kämpfen."
Theater als Existenzfrage
Also spielen sie, um ein paar Stunden das Grauen zu vergessen. 5.600 Tote im vergangenen Jahr, brutal ermordet, von Gangs, die hochgerüstet sind, mit Waffen aus den USA. Gang-Leader spielen sich als Wortführer auf, weil es keine gewählten Politiker gibt. Die letzte Wahl ist fast zehn Jahre her. Derzeit wechseln sich Übergangs-Regierungen ab. Was denkst du über die haitianische Regierung? "Die existiert doch gar nicht", sagt Emilia."

Unterwegs durch die Stadt gibt unser Fahrer Gas, wer langsam fährt, gar anhält, könnte überfallen werden. Haitis Polizei ist den Gangs weit unterlegen, in Waffen- und in Mannstärke. Und auch die internationale Polizei-Mission, geführt von Kenia, bewirkt nur wenig. 800 Polizisten sind da, 2.500 versprochen. 6.000 bräuchte man laut Experten. Ein Interview mit der Mission, seit Wochen angefragt, bekommen wir nicht.
Eine Million Menschen flüchteten schon vor den Gangs, tausende stranden 200 km nördlich – in Cap-Haïtien. Wie Charlene Jules, die nun hier haust, mit ihrem Vater, zwei Kindern. Aus Port-au-Prince flüchteten sie unter Lebensgefahr, weil Gangs auch auf den Überlandstraßen noch Geld erpressen. "Mein Herz ist jedes Mal stehen geblieben, wenn der Bus-Fahrer eine Abgabe zahlen musste", erzählt Charlene. "Ich dachte, was wenn er nicht genug Geld hat? Werden sie uns dann entführen. Ich war jedes Mal so erleichtert, als es weiterging." Doch je mehr Geflüchtete kommen, desto stärker wächst das Chaos hier: Schon vorher versank Cap-Haïtien im Müll, doch zusätzliche Menschen fordern die Infrastruktur.
Flüchtlinge, schlecht ernährte Kinder, die Wirtschaft am Boden
Im wichtigsten Krankenhaus am Ort kämpft Kinderarzt Paul Euclide gegen den Mangel. Etwa die Hälfte der Brutkästen funktioniere nicht. immerhin nützten sie noch als Betten. Haben Sie überhaupt genug Material, wollen wir wissen. "Nooooo!" sagt der Arzt. Und täglich kommen Kinder mit Infektionen, mit Mangelernährung. Essen, noch dazu gesundes, ist für viele unbezahlbar. Die Gewalt lässt die Wirtschaft kollabieren, also steigen die Preise. "Die Qualität der Nahrung ist einfach nicht gut. Sie esse zwar genug Kalorien, aber das Essen ist einfach schlecht."

Wegfliegen, das wäre was. Zehntausende Haitianer haben ihr Land verlassen. Emilia und die meisten hier wollen bleiben, vielleicht Schauspieler werden. Obwohl wegen der Gewalt fast alle Kinos und Theater geschlossen sind. "Für mich ist es keine Lösung das Land zu verlassen und anderswo zu leben. Ich würde gerne hier was aufbauen, und kämpfen, für einen Wandel für die nächste Generation." Ohne drastischen Wandel – und ohne Hilfe wird das wohl nichts. Haiti sei mehrfach Opfer: von Misswirtschaft, Armut und Gewalt – und dem Einfluss von außen. "Die Waffen und Kugeln hier im Land, die kommen doch fast alle aus den USA", sagt Eliézer. "Die USA müssen also mithelfen, und den Schmuggel nach Haiti verhindern. Sie müssten ihre Verantwortung übernehmen und strenger kontrollieren." Der Unterricht ist vorbei. Aber kaum einer mag gehen. Draußen wartet das Chaos von Port-au-Prince und die Unsicherheit, der Heimweg – auch heute wieder – gefährlich.
Autorin: Marie-Kristin Boese, ARD-Studio Mexiko
Stand: 31.03.2025 09:05 Uhr
Kommentare