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Das Erste
Indien: Der Visum-Tempel – Jobs im Ausland mit göttlicher Hilfe
Sechs Runden um das Allerheiligste ist Bindu schon gelaufen, fünf hat sie noch vor sich; eine kurze Strecke gemessen an dem Weg, von dem sie träumt: dem nach Deutschland. Um dort arbeiten zu können, benötigt die gelernte Maschinenbauerin ein Visum; und weil sie auch eine gläubige Hinduistin ist, weiß sie, wohin sie sich als erstes wenden muss. Hierhin!
Bindu Aruna berichtet: "Es gibt diesen Glauben, dass man hier herkommen soll, bevor man ein Visum beantragt. Dann geht man elf Runden, wünscht sich dabei Erfolg und betet dafür, dass es klappt. Und dann bekommt man das Visum auch sicher."
Elf Runden fürs Visum
Elf Runden – da kann man sich schnell verzählen. Also tragen viele der täglich zehntausend Besucher solche Zettel mit sich herum und machen nach jeder Runde ein Kreuz. Nachhelfen kann man noch mit einer Opfergabe. Bindu kauft draußen vor dem Tempel eine Kokosnuss, prüft, ob die dem göttlichen Anspruch genügt. Dann muss die Opfergabe noch verzehrfertig kleingeschlagen werden. Ist das alles wirklich nötig?
Bindu Aruna meint schon: "Definitiv, ich glaube an den Gott Balaji, der vor allem hier wirkt und besonders bei Visumanträgen hilft." Das liegt nicht so sehr an Balaji, einem der vielen indischen Götter, denn der soll eigentlich bei allen Problemen helfen, nicht nur bei der Visumbeschaffung. Nur gibt es eben in Hyderabad besonders viele Gläubige mit eben diesem Anliegen. Und der Priester Rang Rajan berichtet stolz von Wundern, etwa von einem Mann, dessen Visumantrag kürzlich völlig überraschend bewilligt wurde: "Sehen Sie: vorher wurde der Antrag dreimal abgelehnt. Der Beamte war der gleiche, die Unterlagen waren die gleichen, der Pass war der gleiche, der Antragsteller war der gleiche. Was hat die Sache letztlich gedreht? Balajis Segen!"
Religion und Verwaltung
Es sind solche Geschichten, die gerade in den letzten Monaten in Umlauf gekommen sind. Kein Wunder, dass der Andrang ständig zunimmt – auch von Gläubigen, die sich bedanken wollen für ihr Visum. Dafür gibt es einen weiteren vorgeschriebenen Ritus, und der ist richtig anstrengend: statt der elf jetzt 108 Runden. Wer flott marschiert, schafft das in drei Stunden. Aber warum zieht es überhaupt so viele junge Inder ins Ausland? Shravan Kumar kennt die Antwort: "Weil es dort bessere Ausbildungschancen gibt und bessere Forschungsmöglichkeiten. Hier nimmt unsere Bevölkerung ständig zu und die Qualität der Ausbildung ab. Die Ressourcen sind hier einfach begrenzt. Deshalb ist es doch okay, wenn man sich nach etwas anderem umsieht, nach einem Land, in dem es einem besser gefällt."
Dabei gilt das südindische Hyderabad als boomende Metropole. Vier Millionen Menschen leben hier. Und sie finden nicht nur in den Altstadtgassen Arbeit, sondern vor allem hier, im Stadtteil Hightech-City, in dem sich viele moderne Unternehmen niedergelassen haben. Doch für viele der teilweise hochqualifizierten Inder sind die Jobs nicht lukrativ genug. Sie wollen auswandern – befristet oder für immer; die meisten in die USA, immer mehr aber auch nach Deutschland. Mit dem Wunsch beginnt ein längerer Antragsprozess.
Klare Vorstellungen, leichtes Visum!
Ajay Sharma von der Visumagentur Hyderabad: "Bei vielen weiß der zuständige Beamte an der Botschaft nicht, wofür genau das Visum ausgestellt werden soll, ob für einen dauerhaften oder nur einen befristeten Aufenthalt. Wenn der Zweck des Aufenthalts klar ist, dann klappt es in neun von zehn Fällen mit dem Visum."
Auch dank der professionellen Unterstützung von Agenturen wie dieser. Der Besuch im Tempel also überflüssig? Die Wundergeschichten aufgebauscht? Ajay Sharma von der Visumagentur ist nicht dieser Meinung: "Wir haben viele Kunden, die erst den Visum-Tempel besuchen, und dann zu uns kommen. Es ist eine Glaubensfrage, und man darf den Glauben von niemandem auf der Welt in Frage stellen."
Bindu hat ebenfalls den Weg über die Agentur gewählt. Sich direkt bei der Botschaft um ein Visum zu bewerben, ist ihr doch zu riskant. Die 25-Jährige legt ihre Papiere vor und lässt sich eingehend beraten. Der Berater fragt: "Was ist deine Qualifikation?" Bindu antwortet: "Maschinenbau." Der Berater fragt weiter: "Und hast du dich schon über Jobmöglichkeiten in Deutschland informiert?" Bindu: "Nein, noch nicht." Deutsch spricht sie auch noch nicht. Dennoch ist sie optimistisch, dass sie als Fachkraft bei einem deutschen Unternehmen unterkommen wird: "Einige meiner Freunde haben dort studiert, und Europa, vor allem Deutschland, ist für Maschinenbauer sehr attraktiv. Auch wenn es sicher nicht einfach ist, hineinzukommen."
Da kann man jeden göttlichen Beistand gebrauchen. Den gibt’s außer im Visum-Tempel auch hier. In Hyderabad findet in diesen Tagen eines der größten hinduistischen Feste überhaupt statt, diesmal zu Ehren eines anderen Gottes, Ganesha, auch er verehrt als Glücksbringer für alle möglichen Anlässe, warum nicht auch für die Visumbeschaffung? Mit von der heiligen Partie ist Bindu und bittet Ganesha darum, dass auch er ihr beim Auswandern hilft. Visum-Gott Balaji wird hoffentlich nicht eifersüchtig sein.
Autor: Markus Spieker, ARD Neu Delhi
Stand: 12.07.2019 18:02 Uhr
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