Mo., 12.09.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Südafrika: Morden für den Aberglauben
Das Verbrennen von Kräutern – Tradition der südafrikanischen Heiler. Doch für manche von ihnen nicht genug… Nyelisane Sidimela berichtet: "Ich drehte mich um, und da kam dieser Mann auf mich zu. Ich hatte keine Ahnung, dass er mir die Lippen abschneiden wollte. Sechs mal schlug er mir mit einer Eisenstange auf den Kopf.“
Tierknochen, um die Zukunft zu lesen – doch manchmal auch menschliche Körperteile als Zaubermedizin. Nyelisane Sidimela schildert die Zustände: "Das, was die Helfer der Medizinmänner mir angetan haben, tun sie hier immer wieder; es ist für sie ein Routinegeschäft."
Ein Leben in Angst
Mukula, ein kleiner Ort im Norden Südafrikas: Seit dem Überfall leben Nyelisane und ihre Nachbarn hier in Angst. Bei lebendigem Leib hat man der jungen Frau die Lippen aus dem Gesicht geschnitten. Und das nicht ohne Grund: manche hier glauben, dass Körperteile lebender Menschen eine besonders wirksame Medizin sind.
Diesen Weg durch den Busch in der Nähe des Dorfes hatte Nyelisane genommen, zu einem Rendezvous mit ihrem Freund. Gemeinsam mit ihrer Mutter will sie uns zeigen, wo alles passiert ist: Die beiden Verliebten saßen unter einem der Bäume hier. Die Angreifer lauerten hinter ihnen im Unterholz. Hier am Tatort starb Nyelisanes Freund an seinen Verletzungen – ihm hatten die Angreifer den Penis abgeschnitten.
Körperteile mit Symbolkraft
Fraser McNeill, Anthropologe von der Universität Pretoria, erklärt, was dann passiert: "Solche Körperteile werden dann gegessen oder getrunken. Oder man kocht sie mit Kräutern und inhaliert dann die Dämpfe. Es kommt darauf an, sie irgendwie in den eigenen Körper aufzunehmen. Lippen symbolisieren Redegewandtheit, sollen dem, der sie konsumiert, Überzeugungskraft und Macht bringen. Ein Penis steht für sexuelle Energie. Oder man verwendet ihn, um jemand anderen impotent zu machen."
Dieser Glaube hat auch den 12-jährigen Nkosinathi aus Johannesburg zum Opfer werden lassen. Seine Eltern hatten ihn nachmittags zum Einkaufen geschickt. Unterwegs traf er drei Männer, denen er vertraute, denn sie waren Nachbarn. Doch sie verschleppten den Jungen und schnitten ihm den Penis ab. Nur weil Nkosinathi schnell gefunden wurde, überlebte er. Nach drei Monaten im Krankenhaus ist er heute zum ersten Mal wieder zuhause: "Ich habe immer noch Angst auf die Straße zu gehen", sagt er, als wir ihn fragen, ob er sich schon auf die Schule freue. "An jeder Ecke könnte mir wieder etwas passieren. Deshalb möchte ich lieber nicht zur Schule gehen."
Medizinmänner glauben an die Kraft von Körperteilen
Es sind Medizinmänner, die ihren Kunden das Verwenden menschlicher Körperteile empfehlen. Sipho Khumalo, den wir heute treffen, sagt, er und die meisten seiner Kollegen würden das niemals tun; es handle sich um einige wenige geldgierige Hexer. Allenfalls das Schlachten einer Kuh oder einer Ziege zur Besänftigung der Ahnen komme in Frage, sagt Sipho Khumalo. Allerdings: an der Wirksamkeit menschlicher Körperteile zweifelt er nicht: "Besonders gut funktioniert es, wenn man sie von lebenden Menschen nimmt, weil diese Menschen dann immer noch in Gedanken bei zum Beispiel der Hand sind, die sie verloren haben. Mit Leichenteilen ist das schwieriger – das klappt nur, wenn die Familie versäumt, das Ritual zu vollziehen, das der Leiche die Seele des Verstorbenen entnimmt."
Für die Familie des 12-jährigen Nkosinathi ist heute ein besonderer Tag: Vor Gericht werden sie zwei der Männer wiedersehen, die den Jungen angegriffen haben. Gott wollte, dass das Kind überlebt, damit es die Täter identifizieren kann, sagt die Tante des Jungen. Dann betreten die Angeklagten den Gerichtssaal. Es ist einer der wenigen Fälle, in denen ein Angriff wegen Zaubermedizin offiziell als solcher vor Gericht kommt. Statistiken, wie oft es solche Verbrechen gibt, sind umstritten – oft lässt sich das Tatmotiv nicht eindeutig klären. Fraser McNeill von der Universität Pretoria: "Den Gedanken, einen anderen Menschen in sich aufzunehmen, um selbst stärker zu werden, den gibt es allerdings auf der ganzen Welt: Fälle von Kannibalismus gab es auch in Europa, in Australien und Südamerika. Wir sollten nicht den Fehler machen, es als typisch afrikanisch zu betrachten."
Narben und Stigma
Nyelisanes Lippen sind inzwischen operiert – wenn auch nur notdürftig. Noch immer werde sie auf der Straße gemieden, sagt sie, oder man mache sich über sie lustig. Vor allem aber schmerze es, wenn sie den Mund zu weit öffne. Für weitere Behandlungen aber fehle ihr das Geld: "Und trotzdem: wenn mir jemand Geld anbieten würde für eine Operation, dann würde ich sagen: 'Lass es uns lieber in meine Kinder investieren, damit sie sich einmal ihre Träume erfüllen können.'"
Es ist ein schöner Tag in Mukula. Das Leben gehe weiter, sagt Nyelisane. Den Tätern habe sie inzwischen vergeben. Dass die Ritualmorde irgendwann einmal aufhören, glaubt sie allerdings nicht. Dafür seien Armut und Geldgier einfach zu groß.
Autor: Thomas Denzel, ARD Johannesburg
Stand: 12.07.2019 18:02 Uhr
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