Mo., 17.10.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Indien: Muttermilchspende in der Märchenstadt
Udaipur, die Stadt der malerischen Seen und Paläste, verdankt der Legende nach ihre Existenz gespendeter Muttermilch. Vor rund 500 Jahren konnte der Stadtgründer angeblich nur überleben dank der Milch seiner Amme.
In deren Tradition sieht sich auch Usha: Sie kommt alle zehn Tage hier her, mit ihren beiden Kindern, die inzwischen entwöhnt sind. Die Bank befindet sich im Nebentrakt des städtischen Krankenhauses. Hier trifft Usha auf andere Spenderinnen. Dann geht es zu Milchabgabe. Spenderin Usha Sahu erklärt: "Ich konnte nach meiner ersten Geburt zunächst auch keine Milch produzieren. Ich habe mich hier in der Klinik behandeln lassen und dabei gehört, dass es diese Muttermilchbank gibt. Und nun spende ich selbst."
Einfaches Verfahren
Die Prozedur ist immer gleich und ziemlich schlicht: mit einer elektrischen Pumpe wird die Milch entnommen und in kleine Flaschen gefüllt. Seitdem die Bank vor dreieinhalb Jahren gegründet wurde, haben neben Usha über 5000 Frauen gespendet, ohne Honorar. Sogar die Anfahrt bezahlen sie selbst.
Usha Sahu: "Mit der Milch werden Kinder in Waisenhäusern ernährt und solche, deren Mütter keine Milch produzieren können. Es ist einfach die beste Babynahrung. Sie macht Kinder stark." Spenderin Reena Paliwal: "Mein Mann hat kein Problem damit, dass ich meine Milch spende. Im Gegenteil: Er findet es gut, dass die Milche anderen Kindern zu Gute kommt."
Nach der Entnahme wird die Milch erhitzt, um Mikroorganismen abzutöten, dann tiefgekühlt gelagert. Außerdem muss sichergestellt sein, dass die Milch tatsächlich einwandfrei ist. Ärztin Sunita Acharya über die Kontrollen: "Wir unterziehen die Frauen einem Bluttest und checken, ob sie etwa HIV-infiziert sind oder andere Viren haben. Wenn die Tests negativ sind, geben wir die Milch weiter."
Großer Zuspruch
Pro Tag stellen 25 Frauen ihre Milch zur Verfügung, und einen großen Teil davon nimmt er mit, der wichtigste Bankkunde. Er ist der Gründer der Muttermilchbank: Devendra Agraval, Geschäftsmann, Yoga-Guru und Betreiber eines Waisenhauses außerhalb der Stadt. Dieses Waisenhaus ist alleine Mädchen vorbehalten, viele davon gerade erst geboren. Und nach einem von ihnen ist die Muttermilchbank genannt. Devendra Agraval ist immer noch gerührt, wenn er ihr Foto zeigt. Divya heißt das Mädchen, die "Himmlische".
Bank-Gründer Devendra Agraval: "Als Divya hier abgegeben wurde, wog sie kaum mehr als 1000 Gramm. Ich dachte: Um durchzukommen, braucht sie dringend Muttermilch. Und ich wusste nicht, wie ich daran komme. Also habe ich die Muttermilch-Bank gegründet und sie nach ihr benannt."
Und dann erzählt er, wie das Waisenhaus entstand und warum es gerade in Udaipur keine Selbstverständlichkeit ist, wenn Kinder gesund heranwachsen und überhaupt überleben. Denn vor einigen Jahren wurde bekannt, dass die so romantisch wirkenden Seen ein schreckliches Geheimnis bergen, nämlich zahllose Leichen von getöteten Föten und Säuglingen, allesamt weiblich. Ihre Eltern fanden, sie hatten das falsche Geschlecht.
Anfang mit der Babyklappe
Devendra Agrawal: "Ich habe damals eine Babyklappe gegründet und eine Kampagne zur Rettung dieser Babys gestartet. Mein Motto war: 'Nicht wegschmeißen, sondern uns geben.'" Die Babyklappe hat sich über die Jahre zum Waisenhaus weiterentwickelt. Vor allem Frühgeborene und Säuglinge werden hier betreut. Die meisten finden später Adoptiveltern, aber vorher werden sie mit der Muttermilch fit gemacht. Die enthält wertvolle Antikörper, stärkt das Immunsystem.
Devendra Agrawal: "Am Anfang gab es viel Stress mit den Behörden. Aber mittlerweile werde ich voll unterstützt. Alleine in unserem Bundesstaat gibt es dafür ein eigenes Budget. Demnächst werden zehn weitere Muttermilchbänke eröffnet." Und in Planung ist dazu das erste indische Muttermilchforschungszentrum. Auch die öffentliche Resonanz ist groß: Die Außenwand des Waisenhauses ist mit Zeitungsberichten zugeklebt. Am liebsten würde Devendra Agraval jeden einzelnen vorlesen, so stolz ist er.
Die Medien berichten, dass in Udaipur kaum noch Säuglinge ausgesetzt oder gar getötet werden. Und sie berichten über die Muttermilchbank als dem Zufluchtsort für Mütter, die nicht stillen können und trotzdem die beste Nahrung für ihr Baby wollen: Mütter wie Sakina; sie ist nicht in der Bank, um Milch abzugeben sondern abzuheben. Ihr erstes Kind ist bereits nach sieben Monaten zur Welt gekommen. Sie bangt täglich um sein Leben: "Ich kann meinem Sohn keine eigene Milch geben. Der Doktor hat mir deshalb verschrieben hierher zu kommen."
Sakina bekommt vier Fläschchen – täglich, bis ihr Baby außer Lebensgefahr ist. Bezahlen muss sie nichts. Dafür weiß sie, was sie machen wird, wenn sie später doch Milch geben kann und ihr Junge die Brust nicht mehr will: selber spenden.
Autor: Markus Spieker, ARD Neu Delhi
Stand: 13.07.2019 00:39 Uhr
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