Mo., 11.04.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Israel: Wie der Terror das Land verändert
Die Schnellstraße 443 zwischen Jerusalem und Tel Aviv: eher ein Hochsicherheitstrakt als eine Straße. Ein Teil der Strecke führt durchs palästinensische Westjordanland. Die Bushaltestellen liegen hinter Beton, damit kein Attentäter mit einem Auto in die Wartenden rasen kann. Und mit den Mauern und Zäunen sollen palästinensische Terroristen von Angriffen auf Israelis abgehalten werden. Deshalb auch die Checkpoints bei der Ein- und Ausfahrt.
Angst beim Tankstopp
Amir Tal fährt die 443 seit vielen Jahren morgens zur Arbeit, abends zurück. Und alle neun Tage tankt Amir an einer Raststation auf halber Strecke: "Früher habe ich den Tankstopp für eine kurze Pause genutzt, um ein Stretching zu machen. Oder ich habe mir einen Kaffee oder ein Eis gekauft oder eine Falafel am Falafel-Stand." Aber die Zeiten sind vorbei. Überall in der Tankstelle steht jetzt israelisches Militär. Amir bleibt im Auto sitzen, kommuniziert nur durchs Fenster mit dem Tankwart. Im Herbst vergangenen Jahres wurde hier ein israelischer Soldat beim Falafelessen von einem Palästinenser erstochen, ein paar Wochen später ein Israeli während des Tankens bei einem anderen Messerattentat schwer verletzt.
Amir Tal ist nachdenklich: "Es ist komisch, wenn man beim Tanken nicht aussteigt. Aber einerseits möchte ich nicht, dass die Terrorgefahr mein Leben verändert, deshalb will ich auch diesen Ort nicht vermeiden. Aber auf der anderen Seite möchte ich auch mein Glück nicht zu sehr herausfordern." Aber dann, beschützt von zwei Soldaten, wagt er es doch, erstmals seit langer Zeit wieder, auszusteigen, um den Reifendruck zu überprüfen. Amir kämpft um ein wenig Normalität in einem Land, das vom Kampf gegen den Terrorismus beherrscht wird. Auch Tamy im Coffee-Shop will nicht aufgeben: "Ich glaube wir Israelis haben zwei Qualitäten, die uns unter diesen Umständen nützlich sind. Erstens ein extremes Kurzzeitgedächtnis, das uns hilft, Terrorattacken relativ schnell zu vergessen. Und zweitens haben wir gelernt, uns an die Bedrohung zu gewöhnen."
Traumatisierte Gesellschaft
Vergessen und gewöhnen – nicht alle können das. Und selbst diejenigen, die das schaffen, verändern sich. Bei der Telefonhotline für traumatisierte Opfer von Krieg und Terror klingeln die Telefone seit den Messerattacken ständig. Viele Anrufer haben Angst, ihre Häuser zu verlassen. Ältere Kinder oder Jugendliche wollen plötzlich wieder im Bett ihrer Eltern schlafen: "Eine weitere Auswirkung ist Aggressivität: Die Menschen sind unsicher, frustriert, gereizt, haben Wutanfälle, sind gewalttätiger. Das ist für mich ein klares Warnsignal. Ein großes weiteres Thema ist die sogenannte 'Neutralisierung', wie hier das Erschießen von Attentätern genannt wird. Viele fragen, inwieweit Töten und Selbstjustiz erlaubt sind. Auch darüber wird ja in der israelischen Gesellschaft gerade stark diskutiert."
Eine Gesellschaft, die regelmäßig mit solchen Szenen konfrontiert ist: Ein Palästinenser sticht mit einem Messer auf Passanten ein, bis er von einem Polizisten zuerst angeschossen, dann erschossen wird. Umstehende hatten den Polizisten aufgefordert: "Komm, mach den Job richtig, führ ihn zu Ende. Erschieß ihn!"
Bewaffnet bei der Arbeit
Genau dort wo diese Messerattacke stattfand, hat Amichai Warter sein Geschäft. Der junge Familienvater bietet Stadttouren für Touristen an. Auf Fahrrädern oder Segways. Seit den Messerattacken trägt er eine Waffe wie inzwischen immer mehr Zivilisten in Jerusalem: "Man gewöhnt sich vielleicht an die Bedrohung, aber man akzeptiert sie nicht. Man kann doch nicht sagen: 'Leute sterben da und dort – das ist halt so.'"
So also sieht Amichais Kampf um Normalität und ums wirtschaftliche Überleben aus, denn die Touristenzahlen sind massiv eingebrochen: "Ich trage meine Waffe die ganze Zeit, weil ich damit einfach das Gefühl habe, dass meine Familie und ich und auch meine Touristen sicherer sind. Ich habe ja auch wie alle Israelis in der Armee den Umgang mit Waffen gelernt. Und wenn viele Zivilisten so wie ich eine Waffe tragen, dann kann es nicht mehr passieren, dass ein Attentäter auf mehr als zehn Leute einsticht, bevor er erschossen wird. In Jerusalem ist eine Messerattacke meist nach fünf Sekunden zu Ende, weil mittlerweile sehr viele Zivilisten bewaffnet sind."
Die Route seiner Segway-Touren hat er verändert. Er führt die Touristen nun an der Altstadt vorbei, nicht mehr mittendurch. Die Veränderungen durch das ständige Gefühl der Bedrohung sind überall zu spüren. Auch die Politik hat sich radikalisiert: in Jerusalem bestimmen immer mehr die Hardliner wo es langgeht. Die Opposition hat ihnen nichts wirklich entgegenzusetzen. Und nicht nur die Touristen bleiben weg, auch die Israelis bleiben zu Hause. Im früher so beliebten und überfüllten Ausgehviertel von Jerusalem bekommt man mittlerweile jederzeit einen Tisch.
Gegen die Angst leben
Die Wirtin Daniela Lerer hat bei einem Bombenattentat 2006 ihre Schwester verloren: "Es ist eine Entscheidung nicht ängstlich zu sein. Man kann nicht ständig in Angst leben. Es kann überall passieren. Ich könnte in Urlaub gehen, eine wundervolle Zeit in Paris oder in Brüssel haben. Und dann passiert es dort. Natürlich habe ich Albträume. Ständig träume ich von meiner Schwester. Aber ich habe eine Technik entwickelt, aus diesen Träumen aufzuwachen. Wissen Sie nicht, wie das geht? Doch, ich kann das."
Traumatisiert von einem Leben in ständiger Bedrohung – das trifft aber nicht nur für die Israelis zu. In Danielas Restaurant arbeiten zwei junge Palästinenser, Anas und Amir. Auch ihre Familien haben Angst, wenn sie morgens zur Arbeit gehen in ein Jerusalem, in dem die Finger derzeit locker am Abzug sind, auch bei Zivilisten: "Von der Bushaltestelle bis zur Arbeit sind es für mich nur zehn Minuten zu Fuß, aber ich werde mindestens drei- bis viermal von Polizei oder Soldaten aufgehalten und befragt: 'Wohin gehst Du? Was hast Du in Deinen Taschen? Wo wohnst Du?' Dass ein ganz normaler Mensch wie ich, der nicht vorhat, irgendetwas Verbotenes zu tun, ständig verdächtigt wird, auch das kann doch mal dazu führen, dass man aus Frust ausflippt – und dann ist alles vorbei."
Und so kämpfen sie also alle für Normalität, gegen ihre Traumata, gegen die Angst, gegen den Bankrott. Und jeder und jede kämpft dabei für sich allein.
Autorin: Susanne Glass / ARD Tel Aviv
Stand: 11.07.2019 13:44 Uhr
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