So., 16.03.25 | 18:30 Uhr
Westjordanland: Leben zwischen Militäreinsätzen und Radikalisierung
Tulkarem, im Norden des von Israel besetzten Westjordanlandes: wir können bei einer Beerdigung drehen. Damals wissen wir noch nicht, dass es für uns eine der letzten Gelegenheiten sein wird, hierherzukommen, denn seit Ende Januar finden hier andauernde Einsätze des israelischen Militärs statt, die Lebensgefahr bedeuten.
Auch am Tag zuvor war die israelische Armee hier, ein Anti-Terroreinsatz gegen die Hamas sagt das Militär. Die Toten: fünf militante Kämpfer, aber auch Zivilisten, zwei Frauen und ein Jugendlicher. Waffen und Schüsse in die Luft gehören bei Beerdigungen hier dazu.
Die Kinder um uns herum sind das schön gewöhnt. Sie sind hier im Flüchtlingslager von Tulkarem aufgewachsen.
Gefährliches Tulkarem
Es ist einer der gefährlichsten Orte im Westjordanland. Jederzeit kann es hier zu Einsätzen des israelischen Militärs kommen – nur bei Beerdigungen war das bisher nicht der Fall: für uns ein Zeitfenster, um mit unserer Übersetzerin relativ sicher ins Lager zu kommen; wir wollen zu einem, der auf Israels Terrorliste ganz oben stehen.
Im Flüchtlingslager von Tulkarem leben seit den 1950ern Palästinenser, die im Zuge der Staatsgründung Israels geflohen sind oder vertrieben wurden. Daraus hat sich ein ganzer Stadtteil entwickelt. Und überall: Spuren israelischer Militäreinsätze.
Hohe Arbeitslosigkeit, wenig Perspektiven, ein Nährboden für Radikalisierung. Kinder wachsen hier auf umgeben von Gewalt und Bildern getöteter militanter Palästinenser. Für die Menschen im Lager sind sie Widerstandskämpfer gegen die israelische Besatzung, für Israel Terroristen.
Junge Palästinenser beim Klettern
80 Kilometer südlich: kompletter Kontrast. Wir treffen junge Palästinenser, die mit all dem nichts zu tun haben wollen, einfach nur ihr Leben leben wollen, heute beim Klettern mal abschalten. Noch wissen sie nicht, dass der Tag nicht wie geplant verlaufen wird.
Im Nachbarort der Muezzin – sonst komplette Stille. Doch dann kommt Militär: Die Soldaten erklären ihnen, die Gegend sei jetzt militärisches Sperrgebiet. Man versuche eine jüdische Siedlung, die auch nach israelischem Recht illegal ist, zu räumen.
Mittlerweile leben rund 500.000 jüdische Siedler im Westjordanland. Die Kletterer können hier erstmal nicht mehr hin.
Zurück nach Tulkarem ins Flüchtlingslager. In der Trostlosigkeit sehen viele Gewalt und Kampf als einzigen Ausweg. Die schwarzen Planen über uns sollen dafür sorgen, dass israelische Drohnen sie nicht erkennen und angreifen können. Wir sind auf dem Weg zu demjenigen, der sich als Anführer aller militanter Gruppen im Lager bezeichnet, auch der Hamas, laut israelischem Militär mitverantwortlich für mehrere Terrorangriffe auf Israelis: Ihab Abu Atiwe, 23 Jahre alt: “Ich kämpfe für Freiheit, um unser Lager zu befreien und dass es keine Juden mehr auf unserem Land gibt. Solange sie auf unserem Land sind, werden wir nicht aufhören. Diese Kinder sehen uns als Vorbilder und sie werden uns nachfolgen, wenn wir zu Märtyrern werden. Ein Märtyrer kann durch dutzende Kämpfer ersetzt werden. Es gibt keinen anderen Weg als den Kampf.“
Mit “unser Land” meint er nicht nur das palästinensische Westjordanland, sondern auch Israel. Ein Blick nach oben - israelische Drohnen? Ihab will in Deckung gehen. Hier kann es jeden treffen, deshalb entscheiden wir: weg hier.
Einen Monat nach dem Interview veröffentlicht das israelische Militär dieses Video: Ihab Abu Atiwe wird in einem Luftangriff getötet. Aktuell führt die israelische Armee die größten Einsätze seit mehr als 20 Jahren im Norden des Westjordanlandes durch, zerstört Straßen, Häuser, Infrastruktur. Mehr als 40.000 Menschen mussten deshalb laut Vereinten Nationen aus ihren Häusern fliehen.
Sophie von der Tann, ARD Tel Aviv
Stand: 16.03.2025 19:32 Uhr
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