Mo., 12.11.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Italien: Vertreibung aus dem Paradies
Es ist still geworden in Riace. Dabei war der Ort einmal weltberühmt dafür, dass er lebt – dass die Menschen hier Integration gelebt haben. Doch die vergangenen Wochen waren hart, für alle hier. Der Bürgermeister stand unter Hausarrest. Zurzeit darf er nicht mehr nach Riace. Und sein Integrationsprojekt: Gestoppt.
Verzweiflung bei Flüchtlingen
Vor dem Rathaus treffen wir Evelin, Rafia und Jemil. Verzweifelt, weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll. Sie vermissen Domenico Lucano sehr. "Wir alle haben keine Chance mehr. Wir kamen hierher und Domenico hat uns aufgenommen. Er hat uns eine Wohnung und zu Essen gegeben. Domenico ist ein reizender Mann, aber seit er nicht mehr da ist, ist alles vorbei. Keine Ahnung, wir haben keine Hoffnung mehr", sagt Evelin, aus Nigeria. "Er ist ein wirklich guter Mann", so Rafia, aus Kaschmir.
Evelin: "Sie geben uns kein Geld, keine Medizin – nichts."
Ellen Trapp: "Wie geht es dir?"
Evelin: "Ich habe Angst."
Viele Flüchtlinge haben deshalb Riace schon verlassen. Sie hatten Angst davor, von der Polizei abgeholt zu werden. Rafia und Jemil wollen erstmal bleiben. Sie haben sowieso kein Geld um weiterzuziehen.
Wir begleiten sie nach Hause. Ihre beiden Söhne sind gerade in der Schule.
"Wir reden hier viel miteinander über die Situation. Wir teilen das gleiche Schicksal. Wir wollen nicht weg, aber wenn sie das anders entscheiden, müssen wir. Wir haben keine Wahl, ohne Geld und ohne Haus", so Rafia.
Riace vor dem Aussterben gerettet
Jeder bewohnt hier ein Haus, das war die Idee des Bürgermeisters. So wurde Riace vor dem Aussterben gerettet. Ihre Nachbarin Anita aus Nigeria ist sauer auf Domenico Lucano. Als sie vor zehn Monaten hier ankam, hat er ihr Arbeit versprochen, bis jetzt dieses Versprechen aber nicht gehalten. "Ich, Anita, ich will hier in Italien bleiben. Italien hat mir die Papiere ausgestellt, ich will für Italien arbeiten. Ich will für sie arbeiten, ich will hier Steuern zahlen. Ich will nicht weiterziehen nach Deutschland, Spanien oder Frankreich. Nein!", sagt Anita.
Doch für alle könnten es die letzten Tage in Riace sein. Für den Abend ist eine Versammlung angekündigt. Die Flüchtlinge sollen darüber informiert werden, wie es mit ihnen weiter geht.
Auch er weiß nicht, wie es mit ihm weitergeht: Domenico "Mimmo" Lucano. Der Bürgermeister von Riace wirkt resigniert. Seinem Lebenswerk droht das Aus. Gut anderthalb Autostunden von Riace, in Lamezia Terme, ist Mimmo zu Gast bei einer der vielen Solidaritätsbekundungen für ihn. Die Einheimischen feiern ihn als Helden.
"Wie es mir geht? Manchmal mach ich mir Mut. Manchmal fühl ich mich einsam, bin traurig, weil das Ganze ungerecht ist. Nicht nur meinetwegen, weil es um mich geht, sondern generell", so Domenico Lucano.
Schwierige Situation für Domenico Lucano
Alles begann schon vor einem Jahr. Die damalige Regierung in Rom, die Sozialdemokraten, haben Mimmos Projekt nicht mehr finanziell unterstützt. Sie haben Ermittlungen eingeleitet, weil er die Müllentsorgung nicht ausgeschrieben hat. Hinzu kommt der Vorwurf, er habe eine Scheinehe in die Wege geleitet und illegale Einwanderung begünstigt. "Die Regierung hat Absprachen mit den Clanchefs des libyschen Menschenhandels getroffen. Die sollen die Leute zwingen, nicht mehr zu uns zu kommen. Und die Leute sind gestorben. Das sind Verbrechen gegen die Menschheit. Ich habe nur eine Hochzeit organisiert und werde verhaftet. Der Ex-Innenminister läuft frei rum", sagt Domenico Lucano.
Ja, vielleicht habe er Fehler gemacht, so die Leute. Aber in Kalabrien, wo die Ndrangheta, die Mafia, regiere, seien solche kleinen Fehler doch kaum der Rede wert. Mimmo habe immer eine Vision gehabt.
"Es gibt viel Hass, schon immer. Auch von Seiten der Regierung. Da wird zu Gewalt und Hass gegen Ausländer angestiftet", so Laura Folino.
"Ich bin auf Mimmos Seite, von ganzem Herzen", so Attilio Ammendola.
"Er ist ein ganz besonderer Mensch, weil er in einer politisch schwierigen Zeit, die auch mit der Mafia zu kämpfen hat, gearbeitet hat. Und unter diesen Bedingungen hat er ein Wunder vollbracht", so Franco Gallo.
Lebenswerk am Ende
Zurück in Riace. Nicht alle Dorfbewohner waren begeistert von Mimmos Arbeit. Deshalb wollen manche nicht mit uns reden, andere vermissen ihn jetzt schon. "Wenn er verliert, dann stirbt Riace. Dann wird niemand mehr kommen. Keine Touristen mehr und auch sonst nichts mehr", sagt Domenico Pisani. Maria ist traurig darüber, was passiert ist. Und hofft, dass doch noch alles gut wird. "Mimmo ist nicht so, wie er dargestellt wird. Alle, die zusammen mit ihm aufgewachsen sind, kennen ihn anders. Er hat sich immer für Andere eingesetzt, für humanitäre Projekte."
Am Abend kursieren Listen auf dem Dorfplatz von Riace. Die Flüchtlinge suchen ihren Namen. Sie wollen wissen, wie und vor allen Dingen wo ihre Leben weitergehen wird. Bei der offiziellen Veranstaltung dürfen wir nicht filmen. Es dauert knapp eine Stunde, dann kennen viele ihr nächstes Ziel. Die Angst vor menschenunwürdigen Flüchtlingscamps und schlechter Versorgung ist groß.
Evelin: "Dahin werden sie mich bringen – kennst Du das? Roccabernarda. Ist das ein guter Ort? Ich habe Angst."
Rafia: "Sie werden uns erstmal nicht wegbringen. Sie haben noch nicht für alle Platz gefunden. Aber viele Familien werden umziehen."
Ellen Trapp: "Ihr bleibt also hier?"
Rafia: "Vielleicht werden sie in einer Woche entschieden haben."
Wie auch immer das Urteil gegen den Bürgermeister ausfallen wird, eines ist sicher: Sein Lebenswerk in Riace ist am Ende.
Autorin: Ellen Trapp / ARD Studio Rom
Stand: 29.08.2019 05:29 Uhr
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