Mo., 10.07.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Kaschmir: Ein Leben zwischen Rebellion und Rasenplatz
Sie hat die Jungs im Griff. Auf Afshan Ashique hören sie. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Afshan ist die erste weibliche Fußballtrainerin im muslimischen Kaschmir. Dafür musste sie hart kämpfen, auch in ihrer Familie. "Das war nicht leicht für mich. Mein Vater hat mich sogar im Haus eingesperrt. Aber ich konnte ihn überzeugen. Jetzt fragt er sogar ganz oft: Hast du heute kein Training?"
Steinwurf zerplatzt Traum
Afshan träumt von einer internationalen Karriere als Torhüterin der indischen Frauen-Nationalmannschaft. Ihre Chancen waren sehr gut. Doch der Traum zerplatzte. "Ein Tag hat meine ganze Karriere zerstört. Kein Zweifel: Es war ein Fehler. An dem Tag hatte ich das Gefühl, das richtige zu tun. Aber ich hätte es nicht tun dürfen." Was ist passiert? Afshan wirft bei einer Demo Steine auf indische Polizisten, wie viele Jugendliche in Kaschmir, die so gegen Indien als Besatzungsmacht revoltieren. Afshan wird fotografiert, die Bilder tauchen im Internet auf. Der indische Fußballverband schmeißt sie sofort raus. Das war vor ein paar Wochen. Sie sei damals unabsichtlich mit ihren Freundinnen in diese Demo geraten, erzählt Afshan.
"Als wir hier ankamen, flogen schon die Steine. Wir wollten nur die Straße überqueren. Ich habe zu meinen Mädels gesagt: Habt keine Angst. Da kam ein Polizist. Er schlug eine von uns. Ich habe ihn gefragt, was das soll. Aber er schlug einfach weiter. Darauf haben sich meine Mädels dem Protest angeschlossen. Ich dachte: Ok, ich mache mit. Als Trainerin bin ich für sie verantwortlich und ich war wütend. Dann haben wir angefangen Steine zu werfen."
Protest für Unabhängigkeit
Seit Jahren ist Kaschmir im Ausnahmezustand. Schwerbewaffnete Polizisten überall in der Hauptstadt Srinagar. Die Behörden behaupten, die Steinewerfer seien von Pakistan gesteuert und würden von dort finanziert.
Während wir auf dem Platz drehen, kommen immer mehr Jugendliche. Mit Pakistan hätten sie nichts zu tun, erzählen sie. Sie würden Steine werfen, weil die Inder selbst friedlichen Protest verbieten.
"Ich habe ja sonst keine Waffen. Alles, was ich habe, sind Steine. Wenn sie uns nicht zwingen würden, wäre das besser. Aber wir haben sonst keine Mittel", erzählt der Student Imran.
Nach unserem Gespräch nimmt die Polizei den Studenten sofort ins Verhör. Alltag in Kaschmir. Die indische Regierung will die Unabhängigkeitsbewegung mit Härte ersticken. Es gibt willkürliche Festnahmen, Folter. Das Internet wird zensiert. Trotzdem geraten Videos wie dieses in die Öffentlichkeit: Soldaten haben einen jungen Kaschmiri auf der Motorhaube eines Armeejeeps festgebunden – das soll Steinewerfer abschrecken.
Über die sozialen Medien verbreiten sich solche Videos rasend schnell in Kaschmir. Auch Afshan und ihre Freundin haben es gesehen. Bei den Jugendlichen stacheln sie den Hass auf die Inder zusätzlich an. Die Behörden haben Facebook, Twitter & co deshalb abschalten lassen. Eine hilflose Maßnahme.
Geschlossene Unis erschweren Studium
"Ja, die sozialen Medien sind gesperrt. Aber ein paar Leute haben uns gezeigt, wie wir über Umwege trotzdem reinkommen. Also hat die Zensur nix gebracht. Jeder hier benutzt Facebook und WhatsApp. Es funktioniert ganz prima", sagt Afshan.
Am nächsten Tag begleiten wir Afshan zum College. Beide Freundinnen spielen in der gleichen Mannschaft Fußball wie Afshan. Und alle drei studieren Psychologie. Aber das Studium leidet unter dem Ausnahmezustand.
"Es ist echt schwierig, sich auf die Uni zu konzentrieren. Immer wieder erleben wir, dass unschuldige Menschen bei den Protesten umkommen. Viele Jugendliche hier leiden an Depressionen. Wir können nicht richtig studieren, weil die Uni immer wieder für Wochen oder Monate geschlossen wird", so Afshan.
Ein paar Stunden später. Afshan ist schon wieder zuhause. Wir haben gehört, dass es vor dem College erneut Proteste gibt. Steine fliegen in Richtung indischer Polizei. Wir stehen in einer unbeteiligten Zuschauermenge an der Seite. Plötzlich und ohne Vorwarnung schießen die Polizisten Tränengas und Böller in unsere Richtung.
In letzter Zeit schießt die Polizei oft auch scharf bei solchen Demos. Hunderte Verletzte und einige Tote hat es in diesem Jahr schon gegeben. Es gibt nur wenige und zaghafte Versuche von indischer Seite, um die Jugendlichen für sich zu gewinnen. Ein Fußballturnier. Neue Talente sollen entdeckt werden. Veranstaltet wird das Turnier ausgerechnet von der Bereitschaftspolizei.
Mit Sport aus Gewaltspirale
"Wir wollen die Jugendlichen aus der Gewaltspirale herausholen. Sie sollen sich sportlich betätigen. Ich bin sicher, dass wir sie so von anderen Dingen abhalten", sagt Polizeigeneral Ravideep Sahi. Afshan sieht das inzwischen genauso. "Wir vergeuden unsere Jugend, wenn wir Steine schmeißen. Wir zerstören unsere Generation. Wenn wir ein friedliches Kaschmir wollen, müssen wir andere Wege finden. Und ich will, dass auch meine Freunde das verstehen."
Afshan darf am Turnier teilnehmen – sozusagen auf Bewährung. Sie ist mit ganzem Herzen Kaschmiri, doch trotzdem hofft sie, dass sie noch eine Chance bekommt für die indische Nationalmannschaft.
"Mein Traum ist für Indien zu spielen, weil ich in Kaschmir keine sportliche Zukunft habe. Ich würde alles dafür tun. Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja eines Tages auch ein gutes Team in Kaschmir."
Kurz nach unseren Dreharbeiten erhält Afshan die endgültige Absage vom indischen Fußballverband.
Autor: Peter Gerhardt/ARD Studio Neu Delhi
Stand: 16.07.2019 05:47 Uhr
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