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Libanon: Party gegen den Wahnsinn

Libanon: Party gegen den Wahnsinn | Bild: SWR

Wirtschaftskrise, politische Spannungen, religiöse Grabenkämpfe – das alles vergessen sie für den Moment auf der Tanzfläche in dieser Nacht. Jade und seine Frau Tala stehen versunken in den Bässen hinter ihren DJ-Decks in einem der größten Clubs in Beirut, der Grand Factory. Die Partynächte in ihrer Heimatstadt haben für sie immer noch eine besondere Energie. Jade ist einer der Gründer des Clubs. Er wurde durch die Explosion im August 2020 zerstört und wieder aufgebaut. Der Club ist Treffpunkt einer internationalen Party-Szene und vor allem der partyverrückten Libanesen. Wegen der Wirtschaftskrise wird es für sie immer schwieriger. Viele können sich den Eintritt nicht mehr leisten. Deshalb spielt Elias, seit 30 Jahren in der Szene, seine Musik auch abseits der großen Clubs. Das Nachtleben lassen sich die Beiruter auch in der Krise nicht nehmen. Sie kämpfen um ihren Ruf, die Partymetropole des Nahen Ostens zu sein.

Feiern, als wäre es der letzte Tag

Party gegen den Wahnsinn. In einem Land, in dem es eigentlich nichts zu feiern gibt. Mit dem Aufzug geht es in den sechs. Stock einer ehemaligen Matratzenfabrik. Flucht in eine andere, schönere Welt. Abtauchen. Für rund 12 Dollar. Jade ist einer der Gründer hinter Grand Factory, einem der bekanntesten Clubs im Libanon. Heute Nacht legt er gemeinsam mit seiner Frau Tala auf. Er sagt: Das, was sie hier alle eint, ist die Liebe zu elektronischer Musik und zu wissen, was es heißt, wiederaufzustehen, nachdem man fast alles verloren hat. "Wenn du in einem zerrütteten Land lebst, das dir keine Ruhe oder Zukunftsplanung erlaubt, keine Sicherheit oder Geborgenheit gibt – dann hast du nichts zu tun, dann feierst du, als wäre dies dein letzter Tag."

Graffiti an Wand, u.a. geballte Faust
Die Wut über die Zustände im Libanon ist groß  | Bild: SWR

Erst seit sechs Monaten können sie hier wieder feiern. Der Club war halb zerstört, er liegt in unmittelbarer Nähe zum Hafen, wo im August 2020 eine riesige Explosion nahezu das ganze Viertel zerstörte. Beirut und seine Menschen mussten schon davor viel ertragen: 15 Jahre lang Bürgerkrieg, religiöse Grabenkämpfe, eine korrupte Politik mit wechselnden Regierungen. Eine Protestbewegung ohne Erfolg. Der Libanon steckt in einer Wirtschaftskrise, wie sie das Land noch nicht erlebt hat. Das libanesische Pfund hat etwa 90 Prozent seines Wertes verloren. Viele kommen nicht mehr an ihr Erspartes. Der Kurs am Boden. Für 100 Euro gibt es in der Wechselstube 10 Millionen libanesische Pfund.

Freiheit, Ekstase, friedliches Miteinander

Damit ist auch Feiern gehen zur Frage geworden, wer sich das überhaupt noch leisten kann. Im Orient Express, einer Bar im Szene-Viertel Badaro, feiern die Menschen abseits des Mainstreams. Wer sich hier trifft, kennt sich. "Das ist wie ein Familientreffen für mich", erzählt Rawan. "Jedes Mal, wenn ich herkomme, ist das wie Zuhause. Hier im Libanon, wir lieben Feiern. Egal, was ist. Bei allem, was wir durchgemacht haben, finden wir immer einen weg, dass alles mit Musik und Feiern loszuwerden. Sogar, die die wenig Geld haben, sparen etwas, um auszugehen und Spaß zu habe."

DJ in Disco
Flucht in eine andere Welt | Bild: SWR

Wer hier feiert, zahlt keinen Eintritt nur die Drinks. Und versucht weniger Geld an der Bar zu lassen als vorher. "Jeder von uns hat Cousins oder Brüder, die im Ausland leben", erzählt Mohamed. "Die schicken uns Dollar rüber. Ihre einzige Sorge ist, ihrer Familie Geld zu schicken, dass sie die Wirtschaftskrise nicht so doll spüren." Es spielen Newcomer und Lokale DJs wie Elias. Seit 30 Jahren ist er Teil der Szene. Anfangs auf illegalen Raves außerhalb der Stadt, hat er in den größten Clubs gespielt. Auch im BO18, dem ältesten Club Beiruts, der die elektronische Musik in den Nahen Osten gebracht hat. Freiheit, Ekstase, friedliches Miteinander.

Eine Krise, die kein Ende nimmt

Auch Elias war im Ausland, aber kam wieder. Das, was seine Musik definiert, findet er nur hier. Mitten in Beirut, bezahlbar für jeden, der kommen mag. "Unser Plan ist, das den Leuten für immer anbieten zu können", sagt DJ und Producer Elias Merheb. "Egal, wie die Situation ist. "

Heruntergekommene Häuser in Beirut
Am nächsten Morgen geht es wieder raus in die Realität  | Bild: SWR

Navigieren durch eine Krise, die kein Ende nimmt. Das sei die größte Herausforderung, sagt Jade. Seit er und Tala Eltern geworden sind, wohnen sie nicht mehr in Beirut, sie sind nach Dubai gezogen. Wollen dort ein neues Projekt starten. "Die Tatsache, dass Du deine gesamten Ersparnisse verloren hast, dass deine ganze Stadt zerstört werden kann und niemand herausfindet, wer es getan hat oder wer dahintersteckt, und niemand zur Verantwortung gezogen wird. Dann hast Du das Gefühl, dass Dein Leben so wertlos und so billig ist, und das ist heute die schlimmste Folge dessen, was passiert ist." Mit der Party schaffen sie eine Insel. Ohne Verzweiflung, Wirtschaftskrise und Zerfall. Zumindest für diese Nacht. Bis es mit dem Aufzug wieder raus in die Realität geht.

Autorin: Vera Rudolph, ARD-Studio-Kairo

Stand: 11.09.2023 10:20 Uhr

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