So., 11.10.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Litauen: Belarussinnen im Exil hoffen auf Rückkehr
Dieser Herbst ist anderer - auch in Litauen. Auf der Kurischen Nehrung ganz im Westen des Landes ist es in diesen Tagen besonders still. Wer ins Land will, muss 14 Tage in Quarantäne. Die Touristen bleiben aus – auch hier am Thomas-Mann-Haus in Nida unweit der Grenze zum russischen Oblast Kaliningrad.
Aber Litauen ist in diesem Herbst auch Zufluchtsort für viele Menschen aus Belarus. Sie fliehen vor der Gewalt, vor drohender Verhaftung, vor dem Regime von Aljaksandr Lukaschenko. Ilja ist einer von ihnen. Er ist 29, Programmierer. An diesem Morgen ist er auf dem Weg zur Ausländervehörde in Vilnius. Er will Asyl beantragen.
Was sie ihm genau vorwerfen, weiß er nicht. Aber er hat nicht lange gezögert und hat sein Land verlassen. Inzwischen haben die litauischen Behörden die Einreisebedingungen für Menschen aus Belarus deutlich vereinfacht – trotz Corona.
Fluchtpunkt Litauen
Ein Appartement in einem der Hochhäuser von Vilnius. Normalerweise vermietet Natalja Kolegova es an Geschäftsreisende. Nun hat sie zwei Frauen aus Minsk hier untergebracht. Olga ist 36, hat als Finanzberaterin gearbeitet. Nach einer der großen Demonstrationen Mitte September passierte es: „Wir waren unterwegs nach Hause, als unser Auto von Polizisten gestoppt wurde. Man hat auf uns geschossen. Bei der Festnahme wurden wir alle zum Boden geworfen und geschlagen. Ich habe ein richtiges Trauma erlitten. Nach all dem sollte uns der Prozess gemacht werden. Wegen der Organisation von Massenunruhen. Ich drohte, ins Gefängnis zu kommen und alles zu verlieren.“
Für Natalia war klar, dass sie helfen musste. Sie selbst ist selbst vor 20 Jahren von Belarus nach Litauen gezogen. Nun hat sie einen Verein gegründet, um die zu unterstützen, die jetzt ins Land kommen.
Zwischen Rückkehr und Bleiben
Auch für Svetlana ist das Appartement ein vorübergehendes Zuhause geworden. Sie ist 39, hat im Marketing gearbeitet. Ständig ist in Kontakt mit ihrer Familie, denn ihre 12-jährige Tochter musste sie bei ihrer Mutter zurücklassen. Warum sie hier ist? Es wurde ihr zu gefährlich, nachdem sie bei einer der Kundgebungen versucht hatte, einem der Männer von der Sonderpolizei OMON die Maske vom Gesicht zu reißen.
Svetlana haben Menschenrechtsaktivisten über die Grenze geholfen. Auch ihr drohte die Verhaftung. Nun sind sie hier. Abgeschnitten von ihren Familien und wollen so schnell wie möglich wieder zurück.
Bei Ilja ist das anders. Er will bleiben, möchte sich in Litauen eine neue Existenz aufbauen. Als Programmierer hat er schon in London und Moskau gearbeitet. Gut ausgebildete Leute könnten überall einen Job finden, meint er.
Ilja fühlt sich verstanden in Litauen. Die Regierung in Vilnius hat sich früh auf die Seite der Bürgerbewegung gestellt.
Eine politische Wende im eigenen Land – das ist die einzige Hoffnung, die Svetlana, Olga und die anderen Oppositionellen in Litauen haben. Das schweißt zusammen, auch hier im Exil. Natalja, Svetlana und einige andere ziehen vor die Botschaft von Belarus in Vilnius. Sie wollen wenigstens auf diese Weise ihren Protest gegen die politische Führung in Minsk fortsetzen. Jeden Tag kommen sie hierher – bis sich etwas ändert in ihrem Land.
Im Baltikum war es die singende Revolution, die vor mehr als 30 Jahren die Unabhängigkeit gebracht hat. Und nun singen sie wieder in Vilnius – diesmal für die Freiheit der Menschen jenseits der Grenze.
Autor: Christian Stichler, ARD Stockholm
Stand: 12.10.2020 00:16 Uhr
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