Mo., 19.06.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Marokko: Hilfe für mittellose Patienten
Das ist er – der Moment, auf den er so lange gewartet hat, wenn das Pflaster abgezogen und die Welt auf einmal wieder scharf wird. "Ich kann wieder sehen", ruft er. "Vorher, auf dem rechten Auge, da war gar nichts mehr, aber nun sehe ich richtig gut. Gott sei es gedankt!" In den Bergen von Marokko beginnt diese Geschichte, mit einem Lastwagen und einem Kleinbus. Zweimal im Jahr fahren ein Augenarzt und sein Team in entlegene Winkel, um bedürftige Landsleute am Grauen Star zu operieren. "Unsere Mission ist es, dass Menschen wieder richtig sehen können", sagt Manager Said Saib.
Sehnsüchtiges Warten auf den Spezialisten
Unterwegs im Süden Marokkos – in der Wüstenstadt Tan Tan hat sich die Ankunft des Augenarztes aus Casablanca schon seit Wochen herumgesprochen. Der 67-jährige Omar Semmana wartet sehnsüchtig auf die Spezialisten. Er leidet wie viele Marokkaner am Grauen Star – zu starke Sonneneinstrahlung und schlechte Ernährung, zwei Ursachen für dieses Leiden. Omar nimmt seine Welt nur noch durch einen Schleier wahr. Früher hat er noch als Straßenverkäufer gearbeitet, doch das geht nicht mehr – zu oft ist er gestürzt. "Mein krankes Auge lässt mich nicht mehr schlafen, gerade in der Nacht brennt es stark. Ich fühle mich sehr schwach", sagt Omar Semmana.
Dr. Raiss will den Ärmsten helfen
Im Krankenhaus von Tan Tan drängen sich schon viele Menschen . Normalerweise kostet eine Augenoperation um die 1000 Euro – das könnte sich niemand hier leisten. Im Hinterhof werden die teuren Geräte ausgeladen, High-Tech-Optik aus Deutschland, aus Jena. Drinnen bereitet sich Augenarzt Abderrahmane Raiss vor, eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Normalerweise kommen seine Kunden in Casablanca aus der Oberschicht, doch hier will Dr. Raiss den Ärmsten helfen, kostenlos. "Ich möchte mein Land und meine Landsleute unterstützen und so ein soziales Problem lösen. Da liegt es nahe, dass ich meine Fähigkeiten mit den Menschen teile", sagt er.
Zu wenig Ärzte, Kliniken und Technik
Für die Vor-Untersuchung gibt es Augentropfen, damit sich die Pupillen weiten. Dann eine Ruhepause – bevor der Augenarzt über das Schicksal von jedem hier entscheidet. "Ich bete zu Gott, dass ich operiert und so den Grauen Star los werde. Hoffentlich werde ich für diese Operation ausgesucht", sagt Omar. Die Voruntersuchung beginnt – ist die Augenlinse wirklich hinter der Pupille eingetrübt? Gedränge an der Tür – kein Wunder, hier herrscht der Notstand. Acht Millionen Marokkaner haben laut Weltbank keinen Zugang zu medizinischer Behandlung – gerade auf dem Land gibt es von allem zu wenig: Ärzten, Kliniken, Technik. "Wir haben zwar gerade einen Augenarzt eingestellt", sagt der Krankenhaus-Direktor Abdellah Dekkaki. "Der kann die Menschen untersuchen, aber nicht operieren. Dafür fehlen uns die Geräte."
60 Augen-Operationen in zwei Tagen
Die teure Technik hat Dr. Raiss mitgebracht. Sein Marathon beginnt nun – 60 Patienten wird er in zwei Tagen operieren, Auge um Auge, mit einem Spitzen-Mikroskop, begleitet von Walzermusik der Wiener Philharmoniker. Die beruhige ihn, sagt er uns. Dr. Raiss zerteilt mit einem Skalpell die trüben Linsen, saugt sie mit einem Schlauch ab und setzt dann eine neue künstliche Linse ein. Millimeter-Arbeit unter höchster Konzentration. Seine Fähigkeiten haben den Arzt vermögend gemacht. Als gläubiger Moslem will er von seinem Reichtum etwas zurückgeben, etwa an bedürftige Menschen wie Omar Semanna. "Der Eingriff bei ihm war ein bisschen riskant mit der Öffnung, um die neue Linse einzusetzen, aber es hat zum Glück funktioniert", sagt Dr. Raiss.
Große Freude nach dem Eingriff
Der nächste Tag bringt in Tan Tan die Stunde der Wahrheit. Die Augenbinden werden abgenommen. Das sei der Moment, für den es sich lohne, zu arbeiten, sagt uns Dr. Raiss – das erste ungläubige Lachen, die große Freude. "Das kann doch nicht wahr sein, ich sehe wieder scharf." Und auch diese Frau – überglücklich. "Gott sei es gedankt, ich bin so froh." Dann kommt ein älterer Mann hinein, er konnte seit fünf Jahren auf beiden Augen nichts mehr sehen. "Ja", sagt er, "tatsächlich, ich erkenne wieder etwas." Da muss auch Doktor Raiss tief durchatmen. "Gott segne diesen Doktor", sagt der Mann, "ich bin so glücklich." Und auch bei Omar Semmana ist der Eingriff gelungen, seine Welt wird wieder scharf. "Der Nebel auf meinem Auge ist verschwunden, das ist großartig. Ich fühle mich so viel besser", sagt Omar.
Lichtblick in der Wüste
"Ich hatte eigentlich nur bei einigen wenigen Fällen Bedenken gehabt, aber es ist alles richtig gut gegangen", zieht Doktor Raiss Bilanz. "Ich bin zufrieden." Diese Menschen sind begeistert, der Augenarzt hat ihnen ein neues Leben geschenkt. So empfinden sie es. Für sie ist es ein Wunder, ein Lichtblick in der Wüste.
Autor: Stefan Schaaf, ARD Madrid und Maghreb
Stand: 16.07.2019 02:01 Uhr
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