Mo., 08.02.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Marokko: Wie Männer über Frauen denken
Irgendwo in Rabat auf einer Dachterrasse – der Rapper "Black Wind" singt von der Enge, der Repression in Marokko. Ein Rap über das Lebensgefühl der jungen Leute. Wie redet man mit ihnen über Themen wie Sex und Anmache, Gewalt, die Kölner Silvesternacht? Das geht nur über Mittelsmänner, etwa den Rapper und die Jugendgruppe "Amicale", mit der wir in einem Armenviertel unterwegs sind.
Der Aktivist Mehdi Ataibi fragt für uns, ob die Vorfälle in Köln typisch seien. Ein junger Mann antwortet: "Unser Leben hier ist völlig reglementiert, durch die Kultur und die Religion. Ich kann mir vorstellen, dass die Jugendlichen sich in Köln wie befreit gefühlt, aber dann auch irgendwie die Kontrolle verloren haben. So wurden Grenzen überschritten."
Ein Kulturkampf, um die Mentalität zu ändern
Mehdi Ataibi von der Jugendgruppe "Amicale": "Um unsere Mentalität zu ändern, bedarf es sehr viel Zeit. Das ist ein regelrechter Kulturkampf, und der braucht Generationen."
Ein paar Straßen weiter bringt uns Mehdi zu einem Jugendklub – dort geht es offen, liberal zu: Kickboxing - Männer und Frauen trainieren zusammen. Das erscheint in diesem Klub ganz normal. Marokko ist immer beides: modern und dann wieder mittelalterlich. Das zeigt sich auch bei der Diskussion, die Mehdi in einem Nebenraum organisiert hat. Sexuelle Belästigung gehöre zu ihrem Alltag, bestätigen uns die jungen Leute. Der Islam verbiete das ja, betonen sie. Warum es dennoch dazu komme, fragen wir.
Eine Frau antwortet uns: "Manchmal liegt es auch an der Frau, die den Mann provoziert, mit ihrer Kleidung, ihrem Körper. Wenn Frauen ihre Freiheit haben wollen, müssen sie dafür einen Preis zahlen."
"Unsere Gesellschaft ist gnadenlos"
Ein Dokumentarfilm gewährt einen noch tieferen Einblick in eine archaische Gesellschaft – der Film "Break the silence", "Brich das Schweigen". Er trägt, ohne zu verurteilen, Ansichten zusammen – offenherzig, schonungslos. Ein Mädchen sagt darin: "Unsere Gesellschaft ist gnadenlos. Wenn die Leute ein Mädchen und einen Junge in der Straße zusammen sehen, dann sagen sie: 'Was für eine Schande!'" Ein Mann: "Wenn ein Mädchen vergewaltigt wird, dann kann sie entweder Prostituierte werden oder aber sie heiratet den Mann und befriedigt dann all seine Bedürfnisse." Ähnlich auch die Meinung einer älteren Frau: "In unserer Gesellschaft gilt: wenn ein Mädchen vergewaltigt wurde, dann ist es nicht mehr verheiratbar. Keiner will sie mehr – alle wollen ein 'gutes Mädchen'." "Warum sind wir so unbarmherzig?", heißt es im Film.
Unerschrocken hat die Filmemacherin Hind Bensari auf Marokkos Straßen und Plätzen diskutiert. Oftmals zeigten sich dabei junge Leute konservativer als die älteren bärtigen Männer. Es sind die Lebensumstände in einer sehr traditionellen Gesellschaft, die die Beziehungen prägen, meint Bensari: "Ich glaube, die Menschen verlieren ihre Menschlichkeit wegen der großen Armut. Das bringt der Film auf den Punkt: der tägliche Kampf ums Überleben zerstört unsere Bindungen, es gibt kein Mitleid mehr."
Die Gleichberechtigung ist in Marokkos Verfassung festgeschrieben, trotzdem gibt es auch das: Vielehe, Verheiratung von Minderjährigen, Vergewaltigung. Ein junger Mann zieht im Film einen traurigen Schluss: "In Marokko gibt es keine Liebe, vielleicht als Worte, aber nicht wirkliche Liebe. Wir wissen nicht, was das ist."
Das soziale Image zählt
Dokumentarfilmerin Hind Bensari nimmt dabei die Religion in Schutz: "In all meinen Interviews hat niemand zu mir gesagt: 'Wir verhalten uns so wegen der Religion oder weil es so im Koran steht.' Niemand. Ich glaube, es ist vielmehr die Angst vor dem sozialen Stigma. Es geht darum, gut auszusehen, gut dazu stehen, vor allem vor den Nachbarn."
Aktivisten wie Mehdi Ataibi kämpfen gegen diese Stigmatisierung, gegen die soziale Kontrolle. In Marokkos Vierteln beobachtet jeder jeden. Es ist diese Enge, die viele jugendliche Marokkaner ins Ausland treibt, auf der Suche nach Arbeit und Freiheit, wie uns ein junger Mann sagt: "Generell wirst Du in Europa als Mensch respektiert. Diese Menschlichkeit gibt es hier nicht. Und deswegen will ich von hier weg." Mehdi Ataibi pflichtet ihm bei: "Europa steht dafür, dass Du dort sehr viel mehr Möglichkeiten hast, was Arbeit angeht, was das Geld betrifft, aber eben auch und vor allem, wenn es um Deine Rechte als Mensch geht."
"Wer frei seine Meinung sagen will, bekommt Tränengas", singt der Rapper zum Schluss. Marokko, das ist ein Land mit orientalischer Kulisse und einer verstörenden Wirklichkeit.
Autor: Stefan Schaaf, ARD-Madrid
Stand: 11.07.2019 02:12 Uhr
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