So., 01.02.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Nigeria: Der Hölle entkommen - der Schrecken von Boko Haram
Wir sind in Yola. Die Stadt ist übervoll mit Vertriebenen. Mit Menschen, die unvorstellbares Leid erlebt haben. Menschen, die außer einer dürftigen Lebensmittelration vom Staat, nichts mehr haben. So wie Fidelia Joseph: Doch selbst dieses Bisschen, sagt sie, kann man teilen. Fidelia hat den kleinen Clemens aufgenommen. Zusammen mit ihren eigenen sechs Kindern leben sie im Badezimmer einer ehemaligen Militär-Akademie.
Clemens ist zehn Jahre alt. Vor zwei Monaten haben Boko Haram-Kämpfer sein Dorf angegriffen. Seine Eltern und die Großmutter wurden getötet. Er hat sich im Wald versteckt - vier Wochen lang. Keiner weiß genau, wie er dort überlebt hat, er redet nicht darüber.
"Es war schrecklich"
Das was sie alle hier durchgemacht haben, sagt Fidelia, diesen Alptraum, könne man eigentlich gar nicht in Worte fassen: "Es war schrecklich. Ich hätte nie gedacht, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Sie haben meinen Mann vor meinen Augen umgebracht. Anderen haben sie die Söhne und Töchter entführt.“ Jetzt helfen wir einander, sagt Fidelia, weil uns sonst keiner hilft: "Ich sage mir: Was, wenn Deine Kinder an seiner Stelle wären? Und ich glaube daran, dass man das, was man gibt, irgendwann zurückbekommt.“
So wie Clemens sind 128 Kinder ohne Eltern in Yola gestrandet. Über 100.000 Flüchtlinge - allein in der Stadt. Doch anders als bei den meisten Krisen: keine einzige internationale Hilfsorganisation, nieman, ist hier, um zu helfen.
Wenig Hilfe vom Staat
Vom nigerianischen Staat selbst kommt wenig. Viele Kinder hier zeigen Zeichen von Mangelernährung. Auch Clemens klagt ständig über Bauchschmerzen. Der einzige Arzt kann wenig ausrichten. Keine Instrumente, kaum Medikamente. Dr. Welye hat vor drei Jahren sein Medizin-Studium in Australien beendet. Er ist zurückgekommen, arbeitet jetzt freiwillig hier - ohne Bezahlung.
"Das sind meine Leute. Der Westen braucht nicht noch mehr Ärzte, aber Nigeria schon. Ich bin hier der einzige Arzt. Ich habe auch während der Sturmkatastrophe auf den Philippinen ausgeholfen. Die internationale Hilfe dort war enorm. Ich wünschte, ich könnte sagen, warum das hier anders ist. Vielleicht sind wir global nicht relevant genug."
Nicht relevant genug? Dabei sind zurzeit etwa eine Million Menschen aus dem Norden Nigerias auf der Flucht.Wir wollen uns ansehen, wovor sie geflohen sind. Zu unserem Schutz begleiten uns zwei bewaffnete Polizisten, ein Mann von der lokalen Bürgerwehr und unser eigener Sicherheitsexperte. Unterwegs sind überall Straßensperre und die Zerstörung nimmt zu, je weiter wir Richtung Norden fahren. Häuser, Kirchen, Märkte - verbrannt und verwüstet.
Lokale Bürgerwehr - die neuen Helden
So wie in der Kleinstadt Hong. Seit etwa drei Wochen sind viele der Bewohner wieder hierher zurückgekehrt. Sie versuchen so etwas wie Alltag inmitten der Trümmer. Doch überall herrscht Angst. Auf dem Markt will keiner offen mit uns reden. Der Name "Boko Haram" wird hier nicht ausgesprochen. Ohne unsere Kamera erfahren wir: Die Milizen von Boko Haram haben brutal gemordet und die Leichen einfach auf den Straßen liegengelassen. Davon, dass sie einen islamischen Staat mit echten Strukturen aufbauen wollten - keine Spur. Nur blinde Zerstörungswut.
Polizei und Militär hätten die Menschen nicht beschützt, traut sich Benham Maksha uns zu erzählen. Ein Bewohner, der alles miterlebt hat: "Die Angreifer haben uns in der Nacht überrascht und sofort angefangen zu schießen, vier Tage lang. Unsere Sicherheitskräfte sind davongerannt. Und wir hatten nicht so starke Waffen wie die.“
Keiner hätte das Wüten der Boko Haram aufgehalten. Keiner außer der lokalen Bürgerwehr. Ein Zusammenschluss aus Alten und Arbeitslosen: Die neuen Helden im Norden Nigerias. Mit ihren abenteuerlich zusammengebastelten Waffen haben sie den Kampf aufgenommen. Bis die Armee dann doch zu Hilfe kam.
Boko Haram hat kaum noch Unterstützer
Ihnen vertrauen die Menschen. Der Armee, dem Regierungsapparat nicht. Wenn man sich anschaut, in welchem Reichtum die Politiker leben, während nur ein paar Kilometer weiter Terror und Leid herrscht, wundert das nicht. Bei einem Tässchen Tee erklärt uns der Gouverneur, dass seine Regierung einfach nicht mehr für die Gewaltopfer leisten könne. Bei der Frage, was und wie viel genau das sei, gerät er ins Stocken: "Ich muss mal prüfen, wie viele Lebensmittel wir den Flüchtlingen gegeben haben. Aber wissen Sie, ich muss auch kein Monopol auf Hilfeleistungen haben. Es sollen gern auch andere kommen. Ich rufe alle unsere Freunde dazu auf, zu spenden", sagt Bala James Ngilari, Gouverneur vom Adamawa State.
Es ist wohl auch dieses Gefälle zwischen Arm und Reich, warum Boko Haram hier im Norden manchen als Alternative erschien. Mittlerweile hat die Terrorgruppe wenig Unterstützung in der Bevölkerung. Nach einer Alternative sehnen sich die Menschen trotzdem. In zwei Wochen wird in Nigeria gewählt. Und kaum einer, mit dem wir hier sprechen, will für den Präsidenten stimmen.
Der Wunsch nach Frieden
Clemens, der Junge aus dem Flüchtlingscamp, der seine gesamte Familie durch Boko Haram verloren hat, weiß jedenfalls genau, was er vom neuen Präsidenten erwartet. "Er sollte den Menschen genug zu Essen geben und neue Kleidung. Und er sollte wieder Frieden hierher bringen."
Sein Volk versorgen und beschützen soll er also, der neue Präsident Nigerias. Zuviel verlangt ist das eigentlich nicht.
Autorin: Shafagh Laghai, ARD-Studio Nairobi
Stand: 01.02.2015 21:35 Uhr
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