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Neuseeland: Eis für Schulschwänzer

Neuseeland: Eis für Schulschwänzer | Bild: WDR

Sammy sucht Schulschwänzer. Im Süden der Großstadt Auckland. Als Sozialarbeiterin. Sie ist jetzt auf dem Weg zu einer Familie. Die Kinder fehlen unentschuldigt in der Schule. Und zwar schon seit Wochen. Solche Termine hat Sammy jeden Tag. "Wenn wir zum ersten Mal zu einer Familie gehen, dann ist da eine Menge – ich würde nicht sagen Angst – eher Nervosität. Weil du nicht weißt, wo du da reingerätst. Man weiß nicht, ob die Familie freundlich ist oder aggressiv", erzählt die Sozialarbeiterin. An dieser Adresse war sie schon einmal. Sammy bringt eine Essenskiste mit. Das schafft Vertrauen.

Carol lebt hier allein mit zwei ihrer sieben Kinder. Es ist 11 Uhr. Die Tochter liegt noch im Bett. Und will nicht aus ihrem Zimmer. "Ok ich komme Montag wieder", sagt Sammy Leitch. In der Wohnküche sitzt Peter. Er geht eigentlich in die zehnte Klasse, war aber schon seit Monaten nicht mehr da. Warum nicht, das will er nicht sagen. Spaß macht ihm eigentlich sowie so nur eins: "Basketball", sagt der Schüler und Sammy antwortet: "Basketball? Das war's?"

Die Situation ist typisch für Neuseelands Schulschwänzer-Problem: Vor allem Nachkommen der pazifischen Inselbewohner und indigene Maori sind im Land sozial benachteiligt – von Armut und Perspektivlosigkeit betroffen. Und der Schulbesuch gilt bei vielen als weniger wichtig. "Ich bin auch nie zur Schule gegangen. Ich habe die Schule abgebrochen als ich elf Jahre alt war. Damals war das alles noch ganz anders. Aber jetzt stecken wir mitten in diesem Kreislauf. Und ich will einfach, dass das aufhört", erzählt Mutter Carol Bowler. Es ist zwanzig nach elf am Vormittag. Jetzt kommt auch Adrienne aus ihrem Zimmer. Elfte Klasse. Eigentlich. Aber sie fehlt seit einem Jahr in der Schule. Warum, darüber will auch sie nicht sprechen. Wir machen den beiden ein Angebot: Kurz aufschreiben, was sie an der Schule stört. "Der Grund, warum ich Schule nicht mag, ist das Verhalten der Lehrer, der anderen Schüler. Und das Mobbing", sagt Peter.

Kann die Regierung durchgreifen?

Neuseeland: Sammy Leitsch – Sie kümmert sich um Schulschwänzer.
Neuseeland: Sammy Leitsch – Sie kümmert sich um Schulschwänzer. | Bild: WDR

Auch im Süden von Auckland gilt Schulpflicht bis zum Alter von 16 Jahren. Zwar sind offiziell Strafen fürs Schule schwänzen fällig. Doch die Regeln sind landesweit unterschiedlich. Und die Behörden greifen kaum durch. Denn für flächendeckende Kontrollen fehlen Geld und Personal. Und so treffen wir hier auch außerhalb der Schule, Kinder ohne schlechtes Gewissen. "Ich bin einfach aufgewacht und mir war nicht nach Schule heute Morgen", erzählt ein Kind. "Und was hat deine Mutter gesagt?" "Sie war einverstanden, weil es nur heute war." "Was magst du an der Schule nicht?" "Nichts." "Wenn ich die Fächer mag an bestimmten Tagen, dann gehe ich zur Schule. Aber wenn es nicht so mein Fach ist, dann geh ich einfach nicht hin."

Er kennt alle Seiten des Problems: Brendon Crompton war mal Polizist. Dann Lehrer. Jetzt Sozialarbeiter. Er fordert: Strengere Strafen, härtere Konsequenzen. Neuseelands Regierung will das zwar landesweit einführen, doch der Ex-Polizist befürchtet, das könnte schwierig werden: "Ob diese Familien, die ohnehin andere Rechnungen nicht begleichen können, ob die sich von einer Strafe fürs Fehlen in der Schule beeindrucken lassen? Wahrscheinlich nicht. Weil sie einfach nicht zahlen werden. Und in Neuseeland ist es leider so: Wenn man eine Strafe nicht zahlt, dann hat das keine großen Konsequenzen. Die müssen ja nicht ins Gefängnis."

Kinder mit kleinen Tricks motivieren

Neuseeland: Abhängen statt Schulbank drücken.
Neuseeland: Abhängen statt Schulbank drücken. | Bild: WDR

Das Lehrerkollegium an dieser Schule hatte eine ausgefallene Idee, um die Schule wieder ein bisschen attraktiver zu machen. Denn oft fehlte die Hälfte der Schülerschaft. Der Trick: "Ihr alle wart die gaaanze Woche in der Schule. Klatscht mal für euch selbst!", sagt Brendon Crompton. Freitagnachmittag. Es gibt ein Eis. Aber nur für Kinder, die tatsächlich von Montag bis Freitag gekommen sind. "Wenn du einen Tag verpasst, dann kriegst du keins. Aber wenn du an allen Tagen da bist, dann gibt es ein Eis", erzählt ein Schüler. "Und motiviert dich das?" "Ja, das ist eine Motivation für mich!" "Die Idee ist uns beim Brainstormen gekommen. Wir haben erstmal die Kinder in den Mittelpunkt gestellt und uns gefragt: Was mögen alle Kinder? Sie mögen Süßigkeiten. Wir haben uns gesagt, lasst es uns einfach mit Eis versuchen. Und es hat funktioniert. Es war unglaublich, fast magisch. Die Kinder lieben es", sagt Lehrerin Vienna Parker.

Sozialarbeiterin Sammy allerdings hat meist mit Schülern zu tun, die sich von einem Eis nicht mehr beeindrucken lassen. Zweiter Termin an diesem Tag. Die Tochter bleibt seit Monaten zuhause. Sammy ahnt, dass sie hier nicht viel ausrichten kann. Oma, Opa, Onkel, Freund – unübersichtlich, wer hier alles lebt und zu Besuch ist. Von der Schule halten sie alle nicht so viel. "Ich bin nur viereinhalb Jahre zur Schule gegangen, bevor ich rausgeschmissen wurde. Ich war da so 12, 13 Jahre alt. Und ich muss sagen, ich hatte immer gute Jobs seitdem", erzählt Robert Campbell. Sammy versucht solche trostlosen Einblicke nicht an sich ran zu lassen. Immerhin: Manche Kinder konnte Sammy überreden, sich zumindest an einer Fernschule anzumelden und von zuhause aus zu lernen: "Ich versuche den Eltern immer zu verdeutlichen: Irgendwann müssen eure Kinder alleine klarkommen. Und ich bin sicher, ihr wollt eure Kinder mit allem ausstatten, was sie dafür brauchen."

Was ihr Mut macht: Die jüngsten Zahlen in den Schulen Neuseelands sahen zuletzt wieder ein kleines bisschen besser aus. Das treibt sie an.

Autor: Florian Bahrdt / ARD Singapur

Stand: 15.09.2024 18:28 Uhr

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