So., 13.12.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Niederlande: Vom Modedesigner zum Lebensretter
Ein Modedesigner in Moria. Bas Timmer verteilt hier seine Kollektion an Kinder, die kein festes Dach über dem Kopf haben. Eigentlich wollte der 30-Jährige die Laufstege der Welt erobern, jetzt rettet er Leben – mit Wärmeoveralls. Seine spezielle Erfindung produziert er hier, in einer ehemaligen Motorradfabrik in Enschede im Osten der Niederlande: hunderte von Schlafsäcken und Rucksäcken. Die Idee dazu hatte er nach einem persönlichen Schicksalsschlag. "Vor sieben Jahren starb der Vater von zwei Freunden von mir hier in Enschede auf der Straße. Er ist erfroren! Das hat uns alle geschockt und bei mir hat das etwas ausgelöst. Ich habe also so einen Jackenschlafsack entworfen als Prototyp und aus dem einen sind jetzt 12.500 geworden, die wir alle gratis verteilt haben. Und jetzt stecke ich alle meine Kreativität hier rein. Das gibt mir mehr als schöne Klamotten zu entwerfen", erzählt der Designer.
Verteilung direkt an Bedürftige
Und hier warten sie schon auf seine Spezial-Schlafsäcke - in der christlichen Suppenküche von Amsterdam. Simone Schoemaker von der Wohltätigkeitsorganisation 'Tot Heil des Volkes' ist begeistert: "Ach ich sehe schon – vier neue, die können wir gut gebrauchen! Super! Wir haben vorhin erst wieder einen ausgegeben. Ich muss gleich mal kucken wo Gerald ist, der soll heute einen bekommen."
Der holt sich gerade ein Sandwich und einen Kaffee ab. Aufwärmen! Der 72-Jährige lebt seit 10 Jahren auf der Straße. Warum behält er lieber für sich. Früher hat er als Kellner gearbeitet – auf Kreuzfahrtschiffen. Die ganze Welt habe er gesehen, sagt er. Sesshaft sein, nicht sein Ding. Mehr als 60.000 Obdachlose gibt es in den Niederlanden. Die Zahl hat sich in den vergangenen 10 Jahren verdoppelt. "Ich habe was für dich! So einen wolltest du doch haben", sagt Simone zu Gerald. Er freut sich: "Ja, es ist mittlerweile feucht draußen."
Anprobe im Hinterhof. "Das ist hier übrigens mit Anschnallgurten von Porsche gemacht! Oh!", erzählt die Sozialarbeiterin. Seitdem es diese speziellen Schlafsäcke gibt, möchte am liebsten jeder Obdachlose einen haben. So auch Gerald: "Echt warm natürlich! Ja, richtig warm! Oh, das ist ja großartig!"
Der Sheltersuit passt wie angegossen – warm und wasserabweisend. "Ich sehe aus wie eine Mumie", sagt Gerald. Mit integriertem Schal – auch dieses funktionale Design ist entscheidend: Denn jedes Jahr erfrieren in den Niederlanden Menschen. Auch Gerald kennt dieses Problem: "Ich habe jetzt auch einen Schlafsack und dieser Schlafsack ist am Morgen immer nass. Auch wenn es nicht regnet." Er ist jetzt für den Winter gut ausgestattet - der Wärmeoverall wird ihn schützen: "Ich glaube an Jesus und dann ist das ein Geschenk vom Himmel."
Faires Produkt mit fairen Arbeitsbedingungen
Und die Engel arbeiten hier. Den ganzen Tag über rattern in der Fabrik die Nähmaschinen und die Waschmaschinen im Duett. Alles muss erst gewaschen werden und bekommt dann neues Leben eingehaucht. Verarbeitet werden recycelte Zeltplanen für die Außenhülle und gespendete Schlafsäcke als Innenfutter. "Wir leben doch in einer Welt, in der so viel Geld ist und so viel Kleidung. Jeder der in seinen Kleiderschrank guckt, sieht, dass der rappelvoll ist. Dass gleichzeitig immer noch Menschen auf der Straße erfrieren, finde ich erschreckend!", erzählt der Designer, Bas Timmer.
Es dauert etwa 5 Stunden so einen Schlafsack zu nähen und kostet circa 300 Euro. Finanziert wird das über Spenden. Die acht Näher sind Geflüchtete. Nur hier haben sie Arbeit gefunden, haben endlich eine Aufgabe und bekommen Mindestlohn gezahlt. Moumin Alibibi ist einer von ihnen: "Ich habe jahrelang bei meinem Vater gearbeitet. Der hatte eine Kleiderfabrik. Aber so richtig zu nähen, das habe ich jetzt hier gelernt".
Der 24-jährige Syrer legt Schnittmuster auf und Größen fest. Er weiß durch seine lange Flucht, wie es ist auf der Straße zu schlafen und dass man sich vor Gefahren schützen muss: "Ich brauchte ja auch Kleidung. Dicke Kleidung. Hier ist es ja so kalt. Und ich hatte kein Geld. Also habe ich angefangen hier mitzuarbeiten. Und es ist schön, Leuten zu helfen, die selbst kein Dach über dem Kopf haben."
Die Gurte sind übrigens Second-Hand von einer Sportwagenfirma – Bas Timmer legt großen Wert auf die Qualität seiner Streetware. Und auf raffinierte und praktische Details, wie die große Kapuze und den integrierten Schal. "Es ist wirklich speziell für die Obdachlosen konzipiert. Und wir sind auch immer mit ihnen in Kontakt, um noch bessere Lösungen zu finden", sagt er.
In Amsterdam ist Gerald Dekker jedenfalls richtig glücklich mit seinem neuen Schlafsack. Und sehr dankbar: "Und es sind immer Leute gewesen, die mit sehr schöne Erfindungen die Welt besser machen." In einem eiskalten Winter für Menschen ohne Obdach.
Autorin: Gudrun Engel/ARD Studio Brüssel
Stand: 13.12.2020 20:50 Uhr
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