Mo., 27.11.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Russland: Rolle rückwärts für Frauen
Es sieht aus nach einer Einladung für mehr als nur ein Menü: Durchweg jung, liebreizend, anziehend sind sie, die Flugbegleiterinnen der staatlichen russischen Fluglinie Aeroflot. Alt, fett und hässlich – so nennen sie sich, ironisch zugespitzt. Russland führe einen neuen Krieg gegen Frauen. Und sie, ebenso wie hunderte andere Flugbegleiterinnen, sind die Verliererinnen. "Die Leitung rief mich, um Fotos von mir zu machen", erzählt die ehemalige Aeroflot-Flugbegleiterin Jewgenija Magurina. "Erst jetzt begreife ich, wie demütigend das war. Erst ein Porträt. Dann ein Ganzkörperfoto. Ich sollte in einem 45-Grad-Winkel stehen. Dann wurden wir wie Vieh aufgeteilt und man entschied, welches Vieh wohin fliegen darf."
Weniger Gehalt, niedrigerer Rang
Die Firma erklärte öffentlich, Passagiere wollten eben schlanke Frauen sehen. Männer hingegen dürften weiter große Größen tragen. Weniger Gehalt. Niedrigerer Rang. Jewgenija Magurina und Irina Jerusalimskaja zogen vor Gericht – und gewannen. Aeroflot darf Flugbegleiterinnen keine Kleidergröße vorschreiben. "Aber nachdem wir vor Gericht gewannen, änderte sich für uns nichts", sagt Flugbegleiterin Irina Jerusalimskaja. "Sie setzten mich einfach nicht mehr als leitende Senior-Stewardess ein." Jewgenija Magurina erzählt: "Es wurde psychologisch unerträglich. Es war schrecklich. Dieser ständige Druck. Sie hetzten die Kolleginnen gegen uns auf. Gerade die Jüngeren." Die eine verließ die Firma. Die andere wird nicht mehr auf den besser bezahlten Auslandsflügen eingesetzt. Und das nach 20 Jahren im Job.
"Das Land ist wohl noch nicht bereit"
Frauendiskriminierung? Ein tägliches Phänomen. In keinem Land der Welt sind so viele Berufe für Frauen verboten. Ein Gesetz über Gleichberechtigung? Steckt seit Jahren fest. "Nehmen Sie die Firma Google" sagt die Anwältin der beiden Frauen, Arbeitsrechtlerin Ksenia Michailitchenko. "Als ich mit Googles Russland-Vertretung sprach, kam heraus, dass dort niemand für Gleichstellung zuständig ist. Google hat überall Gleichstellungsbeauftragte – nur nicht in Russland. Weil das hier noch nicht Fuß gefasst habe. Das Land ist wohl noch nicht bereit."
Mitleid mit Harvey Weinstein
Das Land erfreut sich am Sexismus. Werbung für ein Asia-Restaurant: "Sie ist aus Petersburg", sagt er, "aber sie kann auch asiatisch, und jederzeit und überall meinen Hunger stillen." Das Staatsfernsehen macht sich lustig über die Opfer von Hollywood-Regisseur Harvey Weinstein. Und hat Mitleid mit dem Übergriffigen. Kaum zu glauben: Russinnen, die für Weinstein protestieren, vor der US-Botschaft in Moskau. "Harvey erregt mich! Harvey komm' nach Russland", steht auf ihren Plakaten.
Mit provokanten Botschaften gegen Tabus
Diese Sankt-Petersburgerinnen wollen das ändern: Mit Botschaften, die an russischen Tabus rühren. "Feminismus oder Tod!", sprühen sie an die Wand. Ein paar Männer schauen ihnen zu. Feminismus gilt in Russland als westliche Idee aggressiver, hässlicher Frauen. Feministinnen werden angegriffen. Die beiden DJ's und Kunststudentinnen kreieren ihre eigene Mode. Auf ihren T-Shirts fordern sie, mit Menstruation oder mit Schamhaaren völlig selbstverständlich umzugehen: "Willkommen im Dschungel" oder Madonnas Hit "Like a virgin" auf dem Slip – für das Recht der Frau auf die eigene sexuelle Lust. Darüber zu sprechen, sei in Russland ungehörig: "Die Frau bei uns soll einerseits eine Superhausfrau sein: treu, hörig, sanft, unschuldig, immer jung, immer zuhause in der Küche. Andererseits soll sie sexy sein, provokante Kleider tragen, stets in voller Montur, und auf Pumps", sagt Designerin Lolja Nordic. Die Erlöse ihrer Tragetasche kommen Frauenhäusern zugute. Geschätzt jede zweite Frau erlebt in Russland sexuelle Gewalt oder Belästigung. Die Gesellschaft werde immer sexistischer. Und zugleich immer konservativer. "Ich denke, Putin ist das Patriarchat. Das Patriarchat ist Putins ganze Ideologie", sagt Lolja Nordic. Präsident Putin im Gespräch mit einer erfolgreichen Geschäftsfrau. Sein väterlicher Rat an sie: "Vergessen Sie nur nicht die Erfüllung Ihrer demografischen Pflicht!"
1917: Feminismus erlebt kurze Blüte
1917: Es sind Russlands demonstrierende Frauen, die die Revolution und den Sturz des Zaren einleiten. Noch vor den meisten westlichen Frauen erringen sie das Wahlrecht. Als erste weltweit dürfen sie legal abtreiben. Der Feminismus erlebt eine kurze Blüte. Hundert Jahre später: Die Smolnij-Kathedrale von St. Petersburg. In der Zarenzeit war hier eine Schule für vornehme Damen. Zu guten Müttern und Offiziersgattinnen wurden sie ausgebildet. Jetzt ist hier eine Mädchenschule, die sich auf die gleichen adligen Prinzipien beruft. Heute sollen sie an "weibliche Musikinstrumente" wie die Harfe herangeführt werden. Die Eltern sind überzeugt: "Frauen zu sein, das müssen sie hier lernen", sagt eine Mutter. "Heutzutage ist bei den Frauen soviel verloren gegangen. Da tragen sie Jeans, müssen viel arbeiten. Aber ich denke, eine Frau muss eine Frau bleiben."
Das Geheimnis der Weiblichkeit
Geschichte und Französisch. Etikette und Tanz. Geduld und Demut. Kurse wie diese sind ungemein gefragt. So gefragt wie jene, wo erwachsene Russinnen Weiblichkeit lernen wollen. Das Geheimnis dieser Weiblichkeit ist einfach. "In der Familie muss der Mann das Oberhaupt sein", sagt Natalja Michailova, Lehrerin in der Smolnij-Mädchenschule. "Eine Frau ist die Stütze des Mannes. Sie ist Mutter. Das ist ihre Hauptbestimmung." Hundert Jahre nach dem ersten Frauenmarsch in Russlands Geschichte wollen viele Erbinnen der Revolution nichts anderes, als wieder Prinzessinnen zu werden.
Autorin: Golineh Atai, ARD Studio Moskau
Stand: 31.07.2019 13:52 Uhr
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