So., 29.09.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Nord- und Ostsee: Spionage getarnt als Forschung
Die Ostsee ein Ort der Ruhe und Idylle, Sehnsuchtsort für Millionen Touristen jedes Jahr. Doch unter der Wasseroberfläche, verborgen am Meeresgrund, ist Deutschland verwundbar. Hier liegen die modernen Lebensadern: Pipelines etwa, aber auch Stromleitungen und Datenkabel. Werden sie zerstört, können Millionen Haushalte nicht mehr versorgt werden.
Ein russischer Soldat; mitten auf der Ostsee mit einem Gewehr bewaffnet. Er steht auf einem vermeintlichen Forschungsschiff, der Sibiryakov. Das Schiff ist mit sensibler Technik ausgestattet, etwa mit leistungsstarken Radaren und Geräten, die den Meeresgrund vermessen können. Diese Schiffe beschäftigen auch den Bundesnachrichtendienst.
Strategische Infrastruktur gefährdet
In der Nähe von Pipelines und Kabeln werden immer wieder Schiffe unter russischer Flagge gesehen, die geheim bleiben wollen, ihre Ortungssysteme abgeschaltet haben. Sie interessieren sich offenbar für all das, was am Meeresboden liegt.
Wir wollen jemanden finden, der an Bord der Sibiryakov war, das Schiff mit dem bewaffneten Soldaten. Wir durchforsten Crewlisten, Seefahrer-Jobbörsen und Soziale Medien. Nach langer Suche ein Treffer: Ein ehemaliges Crewmitglied ist bereit mit uns zu sprechen. Wir fliegen nach Großbritannien, wo der frühere Seemann nun lebt. Seine Arbeit auf dem Schiff endete kurz vor dem Krieg gegen die Ukraine: "Sie fahren Zick-zack-Kurse mit niedriger Geschwindigkeit, wenn sie sich den Meeresboden anschauen. Das ist also immer ein Hinweis darauf, dass sie gerade die eigentliche Arbeit machen, die Spionagearbeit. Sie wollen nicht, dass Leute wissen, wann sie arbeiten, auch wenn das Schiff nur in der Strömung treibt. Das bedeutet, dass der Motor ausgeschaltet ist. Dann benutzen sie gerade das Sonar und müssen deswegen alle Umgebungsgeräusche ausschalten."
Unabhängig von russischem Gas? Sabotage!
Sein ehemaliges Schiff, die Sibiryakov, könnte sie etwas mit dem ungelösten Fall eines möglichen Sabotageaktes zu tun haben? Der betrifft die Gas-Pipeline Baltic Connector. Sie wurde 2018 gebaut, soll Finnland und Estland unabhängig machen von russischem Gas. Doch im Oktober 2023 sind Teile der Pipeline nur noch Schrott. So finden wir heraus, dass die Sibiryakov in den Wochen vor der Zerstörung der Pipeline mehrfach darübergefahren ist. Was genau sie dort getan hat, lässt sich nicht nachweisen, auffällig bleibt die Fahrt aber schon.
Durch die Morse-Signale können wir von nun an die Routen vieler Forschungsschiffe entschlüsseln, die eigentlich geheim bleiben sollen: seit Beginn des Ukraine-Kriegs zählen wir dutzende Durchfahrten durch die Ostsee. In Nord- und Ostsee können wir außerdem mehr als 60 besonders verdächtige Routen identifizieren: Zickzackkurse und ganz langsame Schleichfahrten etwa, immer wieder auch über kritischer Infrastruktur.
Das Misstrauen auf See wächst
Deutschland und die NATO müssen Wege finden, der Bedrohung unter Wasser zu begegnen. Im Juni taucht die Sibiryakov wieder nahe einer Gaspipeline auf. Unsere Analyse zeigt: wieder kreuzt sie über einer Pipeline. Diesmal ist es die Europipe. Sie führt aus Norwegen nach Deutschland und versorgt Millionen Haushalte mit Gas. Die Reise der Sibiryakov geht weiter.
Autorin: Marie Blöcher, Antonius Kempmann, Benedikt Strunz, NDR
Stand: 29.09.2024 21:52 Uhr
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