Mo., 28.09.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Sri Lanka: Unversöhnt – ein Land nach dem Bürgerkrieg
Es ist still. Zu still. Nicht auszuhalten, sagt Thangavel Sathyavati. Es lacht keiner mehr. Es spricht keiner. Aber in ihrem Kopf tobt der Krieg. In jedem Moment. Ihre Lieben sind verschwunden. "Ich kann nicht allein essen. Deswegen sitze ich hier, schaue die Fotos an. Ich kann nicht allein sein. Ich fühle sie nah bei mir. Als wären sie hier, würden mit mir reden", sagt Thangavel Sathyavati.
Fünf Menschen vermisst sie: Tochter, Schwiegersohn, drei Enkel. Das jüngste Kind war zweieinhalb. Zuletzt sah sie die fünf im Mai 2009, am letzten Tag des Bürgerkrieges. Der Schwiegersohn kämpfte auf der Seite der Tamilen. Sie hat ihn überredet, sich zu stellen. Er mit seiner ganzen Familie ging zu den Siegern, den Regierungstruppen. "Ich dachte, die werden sie befragen und wieder gehen lassen. Die Soldaten schickten mich raus. Ich habe gewartet. Ich dachte mir dann, vielleicht behalten sie sie ein paar Tage da. Nun warte ich schon sechs Jahre", erzählt Thangavel Sathyavati.
Tausende verschwanden spurlos
Tausende verschwanden spurlos in Sri Lanka, vielleicht Zehntausende. Sind sie gefangen in geheimen Lagern oder längst tot? Die Tamilen, eine Minderheit, leben im Norden des Landes. Sie wollten einen eigenen Staat. Seit 1983 kämpften sie dafür mit Gewalt. Sie überzogen den Süden mit Terroranschlägen, schickten Selbstmordattentäter und rekrutierten Kindersoldaten.
Die Singhalesen, die die Mehrheit in Sri Lanka stellen und das Land regieren, schlugen brutal zurück. Die Armee schoss und bombardierte – ohne Rücksicht auf Unschuldige. Auf den Schlachtfeldern im Norden sieht es so aus, als sei gestern noch gekämpft worden. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen starben in den letzten Kriegstagen 40.000 Tamilen.
Die Überlebenden erzählen, dass sie eingekesselt, beschossen und bombardiert wurden. Hunderttausende sollen es gewesen sein, die um ihr Leben rannten. Menschen saßen in der Falle. Die Regierungstruppen töteten viele. Aber auch die eigenen Leute hielten sie fest, nutzten Zivilisten als Schutzschilde. Die meisten schweigen noch immer.
"Wir haben überall Leichen gesehen"
Eine Frau will ihr Gesicht aus Angst nicht zeigen. Wir treffen sie am Rande der Schlachtfelder. Sie war mehr als 20 Jahre tamilische Soldatin und erinnert sich: "Die Menschen starben hier, ganze Familien. Sie trauerten und schrien. Es zerbrach mir das Herz. Sie haben auf die Leute geschossen. Wir haben überall Leichen gesehen und mussten die Sterbenden zurücklassen. Wir konnten das Blut riechen."
Auf einmal sind Soldaten da. Wollen wissen, was wir tun? Wollen wissen, wer ist diese Frau? Wer über den Krieg redet, riskiert was – auch sechs Jahre nach dem Ende. Die Regierung feiert nicht weit entfernt ihren Sieg - mit einer goldenen Statue. Wie muss das wirken für die, die Angehörige verloren haben oder sie noch immer vermissen?
Angst vor einem erneuten Krieg
Die Frau gehörte zu der Armee, die die Tamilen aufgebaut hatten, auch ihr Mann, der im Krieg getötet wurde. Über die Verbrechen der eigenen Leute will sie nicht nachdenken. Sie hungerte, sah Menschen sterben. Verwandte wurden lebendig verbrannt. Deshalb beschloss sie, Widerstand zu leisten. Aber was hat der Krieg gebracht?, fragt sie heute. "So viele Menschen sind tot. Wir haben kein Ziel mehr. Mein Mann fehlt mir so, alles hat sich verändert."
Sie lebt nur noch für ihren achtjährigen Sohn. Er wenigstens soll eine faire Chance bekommen. Die Schule wurde zerbombt, deswegen lebt sie mit ihrem Sohn meist in der Stadt. Und sie fürchtet immer noch, der Krieg könnte neu beginnen: "Wir wollen ja Frieden, uns versöhnen. Aber sie pöbeln uns immer noch an, reden schlecht über uns. Das macht es schwer. Ich lebe nur vor mich hin. Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter. Das wars. Die Zeit verrinnt. Und wir haben alles verloren."
"Ich weiß nicht, wo meine Kinder sind"
Wer Frieden will, muss die Wahrheit herausfinden. In der Hauptstadt regiert ein neuer Präsident. Er hat versprochen zu versöhnen, will eine Kommission einsetzen. Die müsste auch Thangavel Satyavatis Fragen beantworten. Sie hat noch zwei Kinder, die in Kanada und London leben. Sie trauen dem Frieden in Sri Lanka immer noch nicht und der Rest der Familie ist verschwunden. "Ich erlaube mir nicht zu glauben, dass ich sie nicht wiedersehe. Sie kommen zurück. Das ist meine große Hoffnung. Ich habe sie alle angeschrieben: das Rote Kreuz, die Regierung, die Vereinten Nationen. Aber sie haben nichts getan. Ich weiß nicht, wo meine Kinder sind. Ich muss jetzt gehen. Mir ist schlecht."
Ob sie je eine Antwort bekommt? Wahrscheinlich wird es still bleiben in ihrem Haus.
Autor: Gábor Halász, ARD-Studio Neu Delhi
Stand: 09.07.2019 11:41 Uhr
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