So., 03.03.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Syrien: Überleben zwischen den Fronten
Aleppo, seit Monaten tobt der Bürgerkrieg in der Handelsmetropole im Norden Syriens. Mit wechselnden Fronten, mal reklamieren die Aufständischen Gebietsgewinne, mal Assads Armee. Aber wie leben die Menschen in den umkämpften Zonen? Wie organisieren sie ihre Lebensmittel, wie die medizinische Versorgung? Wie unterrichten sie ihre Kinder, wie sorgen sie für ihre Sicherheit? Carsten Stormer hat zwei Wochen mitten im Kriegsgebiet gelebt und gedreht.
Der Krieg ist zum Alltag geworden in Aleppo – die Kinder bauen ihn sogar in ihre Spiele ein. Und die Scharfschützen zucken längst nicht mehr zusammen, wenn um sie herum Geschosse krachen. Ihre Wege zwischen den Trümmern sind ausgetreten, jeden Tag gehen sie zur Front – mitten in Aleppo. Seit acht Monaten stehen sich Kämpfer und Regierungssoldaten gegenüber, dort, wo die sogenannten „befreiten Viertel“ an den Rest der Stadt grenzen. Die angekündigte „große Schlacht um Aleppo“ ist zu einem Stellungskrieg geworden. Die Freie Syrische Armee und mehrere Milizen versuchen täglich, die Regierungsarmee zu provozieren. Ihr Ruf – Gott ist groß - ist religiöses Bekenntnis und trotzige Behauptung: wir sind noch hier.
Und sie sind auch noch hier: die Bürger von Aleppo. Früher war sie eine der schönsten Städte des Nahen Ostens. Inzwischen müssen ihre Bewohner tagelang ohne Strom und Wasser auskommen. Der Preis für Heizöl hat sich vervielfacht. In Vierteln, die die Aufständischen kontrollieren, organisieren sie inzwischen wenigstens den Schulunterricht - in Privathäusern, denn viele Schulgebäude sind zerstört oder werden von Flüchtlingen bewohnt. Die Lehrer hier arbeiten unentgeltlich. „Unsere Schule heißt: ‚Die Hoffnung bleibt‘. Denn wir haben immer noch Hoffnung: Obwohl wir beschossen werden, obwohl wir frieren“, sagt die Lehrerin. „Wir hoffen, dass die Kinder weiter lernen können und dass Syrien wieder so wird, wie es mal war, und noch besser.“ Für dieses ‚bessere Syrien‘ gehen viele Aleppiner immer noch auf die Straße, trotz aller Gefahr. Sie rufen: „Syrien gehört der Revolution, ob du willst oder nicht Baschar al-Assad“.
Die Antwort der Regierung kommt aus Luft. Immer wieder krachen Bomben in die Viertel der Aufständischen. Einige Krankenhäuser sind zerstört, die Ärzte weichen auf andere Räume aus. Dort fehlt es an allem. In diese improvisierte Klinik kommen täglich rund 100 Verletzte, die meisten sind Zivilisten. Diese Hände gehören Doktor Abu Haidar, sein Gesicht will er nicht zeigen. „Alle sind betroffen, Kinder, Frauen, Männer, niemand wird verschont in diesem Krieg. Egal ob Soldat oder Zivilist, es kann jeden erwischen, das Regime macht keinen Unterschied.“ Vielen Patienten kann Abu Haidar nicht mehr helfen. Er wünscht sich nichts sehnlicher als ein Ende des Krieges, aber er macht sich auch Sorgen um Syriens Zukunft. „Wir fürchten, dass die jetzige Diktatur durch eine neue, islamische Diktatur ersetzt werden wird. Und damit meine ich nicht al-Kaida oder Terroristen, sondern ich meine Leute, die jahrelang im Ausland gelebt haben. Nun kommen sie her und sagen, sie seien auch Bürger Syriens und könnten uns vorschreiben, wie wir leben sollen.“
Der Arzt meint die Islamisten, die inzwischen in Aleppo das zivile Leben organisieren, und zwar gemeinsam mit den bewaffneten Kämpfern. Die stehen zum Beispiel wie Hilfspolizisten auf einer Kreuzung und warnen Passanten vor den Scharfschützen der Gegenseite. Den Mann mit dem Fahrrad beeindruckt das allerdings wenig. Wer seit Monaten zwischen den Fronten lebt, ist entweder völlig abgestumpft, oder hat sein Schicksal längst in Gottes Hand gelegt. Der Mann radelt stur auf die andere Seite. „Was für ein Dickkopf“ ruft ihm der Kämpfer hinterher. Auch Granateneinschläge gehören längst zum Alltag in Aleppo. Hier hat es eine Wohnung im fünften Stock getroffen. Die Besitzer werfen den Schutt auf die Straße, ohne Rücksicht auf Passanten. Vielleicht spielt es ja keine Rolle mehr, ob einen heute ein Ziegelstein trifft, oder morgen eine Kugel.
Auch sie riskiert täglich ihr Leben – eine der wenigen Frauen unter den Aufständischen. Sie nennt sich Givara, in Anlehnung an den großen Che Guevara. Auf hohen Absätzen läuft sie die Front ab und weist die Kämpfer an. Ihr Gefechtsstand ist ein verlassenes Schlafzimmer. „Wir fordern die Bewohner auf, auch aus den Vierteln zu fliehen, in denen die Regierungsarmee sitzt. Denn wenn wir von dort aus angegriffen werden, dann schießen wir auch zurück, wir müssen uns ja verteidigen. Aber wir wollen keine Zivilisten treffen.“
Diese Kinder sind geflohen – und nun von Almosen abhängig. Seit dem Sommer wohnt die Familie zu neunt im Keller. Wenn kein Strom da ist, in völliger Dunkelheit. „Ich habe kein Gas, wie soll ich da Essen kochen für meine Kinder? Speiseöl habe ich auch nicht. Was soll ich dir sagen – es fehlt einfach an allem. Meine Kinder haben nichts anzuziehen, noch nicht mal Schuhe!“ Die Kinder wagen sich nicht weiter als bis zur Haustür, denn ihre Mutter hat immer Angst vor Angriffen. Nicht überall in Aleppo herrscht Krieg. Und auch in den zerstörten Vierteln trifft man manchmal Menschen, die Pläne für die Zukunft machen: „Wir wollen eine gerechte Regierung. Und gute Beziehungen zur Europäischen Union. Besonders zu Deutschland. Deutschland ist eine Industrienation und hier gibt es viel aufzubauen. Wir brauchen einen neuen Marshallplan für Syrien…..Das ist meine Tochter Sarah. Sie ist fünf Jahre alt. Ich wünsche mir für ihre Zukunft, dass für sie bessere Tage kommen als unsere.“ Es ist die Hoffnung, die die Menschen hier am Leben hält - auch nach acht Monaten Krieg.
Stand: 22.04.2014 14:04 Uhr
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