Mo., 21.03.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Mutiger Journalist gegen Erdogan
Die Pressefreiheit mit Waffen verteidigen: Istanbul im Jahr 2016. Ein Sicherheitsdienst steht vor dem Verlagsgebäude der linksliberalen Tageszeitung Cumhuriyet. Morddrohungen gegen die Journalisten hier gibt es immer wieder. Can Dündar ist Chefredakteur der Cumhuriyet und kann erst seit Kurzem wieder seinem Beruf nachgehen. Er saß 92 Tage in Untersuchungshaft, weil er aus Sicht des türkischen Staatspräsidenten Erdogan das Falsche geschrieben hat.
Dann entschied das oberste Verfassungsgericht des Landes, dass die Untersuchungshaft nicht rechtens sei. Dündar kritisiert Erdogan scharf: "Er muss jede Art von Opposition zerschlagen. So denkt er. Er denkt, wenn er das nicht tut, kommen andere und schließen sich der Opposition an. Deshalb muss er die Opposition von Anfang an zerschlagen, und das mit aller Härte. Bei uns hat er es noch nicht geschafft. Zumindest bis jetzt noch nicht."
Der Prozess droht
Festnahmen von regierungskritischen Journalisten oder Wissenschaftlern sind in der Türkei zurzeit Alltag. Verschiedene Medienhäuser wurden in den letzten Monaten unter Staatsaufsicht gestellt. Noch kann die Cumhuriyet frei berichten. Doch sie ist eine der letzten unabhängigen Tageszeitungen. Dündar droht nach wie vor eine lebenslange Gefängnisstrafe. Am kommenden Freitag beginnt sein Prozess. Auch wenn er jetzt nicht mehr in Untersuchungshaft sitzt, fühlt er sich nicht wirklich wohl in seiner Haut: "Der Mensch genießt die Freiheit. Ich bin aus der Haft entlassen worden; gleichzeitig berichten wir in unserem Blatt jedoch über andere politische Häftlinge. Gestern wurden wieder regierungskritische Wissenschaftler inhaftiert, deshalb fühle ich mich so, als hätte ich ein kleines Gefängnis verlassen und würde mich nun in einem Großen befinden."
Drei Wochen ist es her, dass Dündar und sein Ankara-Korrespondent Erdem Gül aus der Haft entlassen wurden. Spionage und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sind die weiterhin bestehenden Vorwürfe der Staatsanwaltschaft. Dündar und Gül hatten im Frühjahr 2015 über eine LKW-Lieferung nach Syrien berichtet. Die türkische Polizei hatte den Transport gestoppt und untersucht. Danach erklärt Staatspräsident Erdogan im Fernsehen, es handle sich um einen Hilfstransport für Syrien. Schließlich zitieren die Cumhuriyet-Journalisten aus einem Bericht der Staatsanwaltschaft, es habe sich um eine Waffenlieferung für syrische Islamisten gehandelt und veröffentlichen Bilder von Granaten. Daraufhin lässt Erdogan die Beiden festnehmen.
Europa braucht die Türkei und Erdogan
Zurück in der Freiheit, zurück in der Redaktion. Natürlich ist der EU-Türkei-Deal Thema in der jüngsten Ausgabe. Dündar verurteilt die europäischen Regierungschefs scharf dafür, dass sie mit der türkischen Regierung einen Handel eingehen: Die Türkei nimmt die Flüchtlinge – Europa schließt die Augen bei der Pressefreiheit und den Menschenrechten. Das sei der Deal, so Dündar: "Sie bezahlen die Türkei und dafür versprechen die Europäer bei dem autoritären Führungsstil oder verhafteten Journalisten wegzuschauen. Das ist ein schmutziges Geschäft, und ich nehme an, dass Europa sich eines Tages dafür schämen wird."
Wir fahren mit Dündar von Istanbul in die Hauptstadt Ankara. Die Cumhuriyet hat EU-Botschafter in ihr Büro eingeladen. Die Journalisten wollen den Diplomaten über ihre Zeit im Gefängnis berichten und hoffen auf deren Unterstützung bei dem Prozess. Dündar erzählt uns, wie sich sein Land verändert: "In zivilisierten Ländern kann sich der Bürger auf verschiedene Art und Weise informieren, über Medien. Dazu kommen die Bildung und Ausbildung, Gewerkschaften, die Zivilgesellschaft. Doch die Türkei ist ein Land, in dem sich Bürger zurzeit nur eingeschränkt informieren können. Aufgrund von Organisationsverboten können die Menschen zudem nicht zusammenkommen."
Was zählt das Verfassungsgericht?
Ankunft in Ankara: Dündar trifft Erdem Gül, den Büroleiter. Gemeinsam saßen sie in Untersuchungshaft. Gül ist in großer Sorge, weil am kommenden Freitag der Prozess gegen die Beiden beginnen soll: "Dieser Prozess dürfte eigentlich gar nicht stattfinden. Sollten sie den Prozess trotzdem weiterführen, dürfte es nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts, uns aus der Untersuchungshaft zu entlassen, auch kein Urteil mit einer Gefängnisstrafe geben. Aber es gibt Drohungen des Staatspräsidenten, die man so noch nicht erlebt hat. Deshalb gibt es die Sorge, dass wir nach der Verhandlung am 25. März erneut hinter Gittern müssen."
Mit Erdogans Drohungen meint Gül auch, dass der Staatspräsident die Entscheidung des obersten Verfassungsgerichts in Frage stellt. Viele in der Türkei sehen das als Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz.
Kurz darauf kommen die Gäste; auch der deutsche Botschafter in der Türkei ist unter ihnen. Wir würden die Diplomaten gerne zum Thema Pressefreiheit in der Türkei und dem Prozess gegen Dündar und Gül fragen, doch für ein Interview hätten sie von ihren Regierungen keine Genehmigung, sagen sie. Zumindest hören sie Dündar zu. Er erzählt von seinen Erlebnissen im Gefängnis und wirbt um Unterstützung. Doch allzu große Hoffnung setzt er in die Europäer nicht: "Europa sieht das Problem, aber die Flüchtlingskrise ist ein noch größeres Problem für sie. Das ist Erdoğans Glück und unser Pech. Es gibt eine große menschliche Krise mit den Flüchtlingen, und Erdoğan hat sich bereit erklärt, diese zu lösen. Deshalb haben wir die Sorge, dass Europa so lange beim Thema Pressefreiheit wegschauen wird, so lange es diese Flüchtlingskrise gibt."
Dündar muss zurück nach Istanbul. Dort wartet viel Arbeit auf den Journalisten in der Redaktion und der Prozess am kommenden Freitag.
Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 11.07.2019 09:53 Uhr
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