Mo., 21.03.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Krieg im Südosten
Fahriye Cukur kommt jeden Tag in die Stadthalle von Diyarbakir, um zu trauern und um zu protestieren: Gegen den Tod ihrer Tochter Rozerin.
Die 17-jährige Schülerin soll ein Opfer der Gefechte zwischen dem türkischen Militär und Kämpfern der verbotenen Arbeiterpartei PKK sein: "An einem Freitag habe ich durch die Medien davon erfahren. In allen Fernsehsendungen war die Nachricht, dass Rozerin auf der Straße umgebracht worden sei. Scharfschützen hätten ihr eine Kugel in den Kopf geschossen." beklagt die Mutter.
Rozerin kehrt nicht mehr zurück
Am 11. Dezember besucht Rozerin eine Schulfreundin im Stadtviertel Sur. Am gleichen Tag erlässt die türkische Regierung, wie so oft, dort eine Ausgangssperre. Rozerin kann nicht mehr nach Hause. Ihre Mutter: "Ich dachte, dass sie sich irgendwo versteckt hat und irgendwann kommt. Wir haben versucht anzurufen, aber es gab kein Telefon, keinen Strom, kein Internet. Nichts hat funktioniert. Alles war abgestellt."
Seitdem protestiert Fahriye Cukur – wenn auch leise – gemeinsam mit anderen Müttern gegen den Krieg, wie sie die Situation hier nennen, und dafür, die Leichen ihrer Kinder zu bekommen, denn die befinden sich immer noch in dem Gebiet, das kein Zivilist betreten darf. Es gibt Gerüchte Rozerins Leiche läge immer noch auf der Straße. Für ihre Mutter ist das kaum zu ertragen: "Wir haben 20 Petitionen eingereicht, 300 Unterschriften. Wir waren beim Staatsanwalt, bei der Polizei, beim Gouverneur. Dann wurde ein Korridor ins Sperrgebiet geöffnet, und uns wurde gesagt: 'Holt eure Leichen raus.' Aber kurz bevor wir rein konnten, haben wieder starke Gefechte angefangen."
Kampf um Sur
Hauptschauplatz der Gefechte ist Sur, die historische Altstadt von Diyarbakir hinter der Stadtmauer. Das Viertel ist militärisch abgeriegelt. Nur mit Sondergenehmigung können wir dort drehen. Das Leben hier ist längst erloschen. Von den ehemals 75.000 Anwohnern sind die meisten in andere Stadtteile geflohen. Viele Straßen sind komplett gesperrt. Dort haben sich PKK-Kämpfer verschanzt. Und irgendwo hinter diesen Häusern könnte Rozerins Leiche liegen.
Was bei dem Versuch, Opfer der Kämpfe zu bergen, passieren kann, hat Refik Tekin erlebt. Er ist Kameramann beim türkischen Sender IMC TV. Ende Januar filmte er in Cizre eine Gruppe Zivilisten, die Leichen von der Straße holen wollten: "Diese Gruppe hatte weiße Fahnen mit sich und hat sie auch gezeigt. Auf einmal wurde das Feuer auf uns eröffnet. Als ich mich umgesehen habe, sah ich, dass Menschen zu Boden gefallen sind. Und in diesem Moment habe ich in meinem Bein etwas Heißes gespürt."
Refik wird vom türkischen Militär angeschossen: "In diesem Moment habe ich aus Reflex weitergedreht. Ich habe langsam versucht, meine Umgebung zu filmen. Aber ich konnte mich kaum bewegen, denn es fielen immer noch Schüsse. Und ich dachte, wenn sie sehen, dass ich noch lebe, bringen sie mich vielleicht um."
Der Kampf um die Wahrheit
Refik überlebt, zwei Menschen sterben. Er sagt, egal, was man vom Konflikt zwischen Staat und PKK halte: "Eine Berichterstattung muss möglich sein. Es gibt doch diesen Spruch: 'Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst.' Auch wir konnten manche Wahrheit nicht zeigen."
Die Wahrheit – die lässt sich so schwer definieren in diesem Jahrzehnte alten Konflikt zwischen türkischem Staat und der PKK. Auch beim Protest von Rozerins Mutter wird das deutlich. Neben Müttern, deren Kinder als Unbeteiligte sterben mussten, sitzen auch Mütter von PKK-Kämpfern, die überzeugt sind, ihre Söhne verteidigen das kurdische Volk: "Ich will auch nicht, dass die Mütter von Soldaten oder die Mütter von Polizisten weinen müssen. Aber Erdogan bringt Menschen um, er interessiert sich nicht für uns, obwohl er selbst Kinder hat."
Dass Menschen wie Rozerin ihr Leben in einem Konflikt lassen müssen, der immer blutiger wird, dafür macht die Regierungspartei AKP allein die PKK verantwortlich. Muhammed Akar ist AKP-Chef von Diyarbakir. Er ist selbst Kurde und er hält das Vorgehen der Regierung für richtig: "Die PKK hat Minen in den Straßen verteilt, Straßenbarrikaden errichtet, die Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Wie jeder Staat sind wir dazu gezwungen, das Leben und den Besitz unserer Bürger zu verteidigen und auch die Abspaltung unseres Landes zu verhindern."
Die Bewohner sind müde
Diyarbakirs Einwohner haben genug vom langen und zermürbenden Kampf. Auf Demos fordern sie immer wieder ein Ende des Konflikts und Zugang zu den Gebieten, in denen seit über 100 Tagen Ausgangssperre herrscht. Doch Protest ist in diesen Zeiten schwierig. Die Polizei greift hart durch. Das bekommen auch wir zu spüren.
In Diyarbakir herrscht ein generelles Misstrauen, auch gegen die Zivilbevölkerung. Wir besuchen Rozerins Familie zu Hause. Auch sie musste sich anfangs den Vorwurf gefallen lassen, die Tochter sei PKK-Terroristin gewesen, erzählt ihr Vater: "Nach draußen versucht sich der Staat damit zu rechtfertigen. Er kann sich ja nicht hinstellen und sagen: 'Meine Sicherheitskräfte haben einen Bürger umgebracht.' Mein Kind hatte nichts mit den PKK-Kämpfern zu tun. Mein Kind war eine Schülerin und wollte mit unserer Unterstützung ihre Zukunft gestalten."
Solange seine Familie die Leiche von Rozerin nicht selbst gesehen hat, hat sie Hoffnung, dass Rozerin ja vielleicht doch noch am Leben ist und irgendwann wieder nach Hause kommt: "Wir wollen keinen Krieg mehr. Wir wollen Frieden und Waffenruhe. Es ist traurig – für unser gesamtes Volk."
Autorinnen: Katharina Willinger und Gülseren Ölcüm
Stand: 11.07.2019 09:53 Uhr
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