So., 28.07.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Türkei: Terrorgruppe IS Khorasan
Der Islamische Staat ist nicht tot. Ein Ableger der Terrororganisation hat sich zu einer neuen Bedrohung entwickelt. Der IS Khorasan nutzt dabei die Türkei als Rückzugsraum und für die Logistik. Mit direkten Verbindungen nach Deutschland.
Der Islamische Staat war nie tot
Bilder einer Überwachungskamera der Santa Maria Kirche in Istanbul von Ende Januar: Gerade findet der Sonntagsgottesdienst statt. Plötzlich stürmen zwei bewaffnete Männer die Kirche, einer erschießt einen Mann. Der andere feuert wahllos um sich. Dann blockiert die Waffe. Die Angreifer flüchten. Sechs Monate später: die Kirche im Stadtteil Sariyer, steht seitdem unter Polizeischutz. Die mutmaßlichen Angreifer sind längst gefasst: beide sollen Mitglieder des sogenannten "IS Khorasan" sein, ein Ableger des Islamischen Staates. Mit dem Angriff auf die Kirche tritt diese Terror-Gruppe erstmals in Europa in Erscheinung.
"Zum ersten Mal konnte diese Gruppe einen geplanten Anschlag durchführen, ohne dass er verhindert wurde", sagt Anwalt Onur Güler. "Das ist ein Wendepunkt." Onur Güler, ist ein Insider. Er lehne die Ideologie des IS ab, aber als Rechtsanwalt hat er in den letzten Jahren zahlreiche IS-Mitglieder vor türkischen Gerichten vertreten, und Bücher über sie geschrieben. Der IS war nie tot sagt Güler, nur seine Struktur habe sich verändert – genau wie seine Mitglieder. "Einer der Angreifer auf die Santa Maria Kirche war ein Tadschike. Unter ihren gab es in den letzten Jahren eine unfassbare Radikalisierung – so dass sie mittlerweile die stärkste Gruppe im IS sind."
Die Strukturen des IS in Istanbul
Ein Drehkreuz für den IS Khorasan soll Istanbul sein. In einigen Stadtteilen, in denen ultra-religiöse Türken leben, fallen sie kaum auf. Hier leben auch viele Migranten aus Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan – Länder, aus denen die IS-Khorasan-Terroristen überwiegend stammen. Hier tauchen sie unter. Die Journalistin Hediye Levent recherchiert seit vielen Jahren zu dschihadistischen Gruppen. Sie sagt: Der "IS Khorasan" habe sich in der Türkei bestens organisiert. "Laut Gerichtsakten gibt es in Istanbul eine eigene Organisation, die die Ankunft dieser Menschen regelt. Sie besorgt ihnen Unterkünfte, manchen verschafft sie Arbeit und gibt ihnen Geld. Damit sie die iranische Grenze mühelos überqueren können, wird ihnen auch noch Persisch beigebracht."
Die Grenze zwischen der Türkei und dem Iran ist für den "IS-Khorasan" durchlässig: mit gefälschten Pässen gelangen sie vorbei an den Grenzschützern bis nach Afghanistan. Dort erhalten sie eine Kampfausbildung – wie diese Propagandabilder zeigen. Im Anschluss werden einige erneut in die Türkei und weiter in die EU geschickt. Wie viele es sind, ist nicht bekannt. Doch bei groß angelegten Razzien in der Türkei soll die Polizei in den vergangenen Monaten mehr als 3.000 IS-Mitglieder festgenommen haben. Verurteilt werden allerdings die wenigsten. "Aus meiner Erfahrung werden 70 bis 80 Prozent freigesprochen", sagt Onur Güler. "Sie kommen in Abschiebezentren oder einfach frei. Warum? Weil es meist an konkreten Beweisen mangelt. Während die geheimdienstliche Überwachung ganz gut funktioniert, hinkt das gerichtliche Verfahren hinterher. Das ist eine der größten Schwächen im Kampf gegen Terrorismus."
Der Weg der Terroristen in die Türkei
Wir wollen mit dem türkischen Innenministerium über die Bekämpfung des IS und die Zusammenarbeit mit der Justiz sprechen. Trotz mehrmaliger Nachfrage erhalten wir keine Antwort. Das Thema ist heikel: Kritiker werfen der türkischen Regierung um Staatspräsident Erdogan vor, im Bereich Islamismus jahrelang die Augen verschlossen zu haben, manche sprechen gar von Sympathien. Erst ab 2015, als die Türkei selbst Ziel von schweren IS-Anschlägen wird, gehen Polizei und Geheimdienst gegen die Dschihadisten vor. Allerdings waren da schon viele im Land untergetaucht, oft mit falschen Identitäten.
Der "IS Khorasan" nutzt die bereits vorhandene Struktur aus: Mitten in Istanbul soll die Gruppe bis vor kurzem eine Art Internat betrieben haben – derzeit läuft ein Prozess gegen die Betreiber. Die Nachbarn, wollen nicht vor der Kamera sprechen, erzählen uns aber, dass die Dschihadisten Waffen besaßen und viel Geld. Mehr als 70 Jungen sollen in der Schule unterrichtet worden sein. Kinder, die von hier stammen: dem Flüchtlingscamp Al Hol, in Nordsyrien. Sie sind Waisen von getöteten IS-Kämpfern – für die sich international niemand zuständig fühlt. Der "IS Khorasan" schleuste sie aus dem Camp in die Türkei. "Aus dem Al Hol-Camp zu entkommen und die türkisch-syrische Grenze zu erreichen, ist keine einfache Route", erklärt die Journalistin Hediye Levent. "Aber es gibt ein blühendes Geschäft – ähnlich wie bei Flüchtlingsrouten. Es fließen also große Summen, die das Ganze möglich machen."
Verbindungen nach Deutschland
Woher nimmt der "IS Khorasan" all das Geld? Eine Spur führt nach Deutschland. In Nordrhein-Westfalen nimmt die Polizei im Sommer 2023 sieben Männer fest, auch sie stammen mehrheitlich aus Tadschikistan. Innenministerin Nancy Faeser stuft die Gruppe als gefährlich ein: "Auch heute ging es wieder einmal um Vorbereitung eines terroristischen Anschlags, aber vor allem auch um Terrorismusfinanzierung." Düsseldorf. Hier soll einer der festgenommen Männer Geld für den "IS Khorasan" gesammelt haben. Wir hören uns im Stadtteil Bilk um. Der 29-jährige Tadschike sei völlig unauffällig gewesen, erzählen uns Nachbarn. Vor die Kamera wollen auch sie nicht. Das in Deutschland gesammelte Geld soll über Finanzdienstleister wie Western Union in die Türkei transferiert worden sein. Bei Durchsuchungen in Istanbul stellten türkische Ermittler große Geldsummen in Dollar und Euro sicher.
Geld, dass wohl auch an die beiden Attentäter der Istanbuler Santa Maria-Kirche ging. Und das dazu gedient haben könnte, weitere Anschläge im Land zu planen. Die Sicherheitsmaßnahmen in der Türkei sind inzwischen deutlich verstärkt worden, sagen Beobachter, doch das genüge nicht. "So eine Organisation unter Kontrolle zu halten, ist sehr schwer", sagt Hediye Levent. "Es ist, als würde man einen Skorpion in der Tasche tragen. Man kann es riskieren, aber man hat keine Garantie, dass er nicht irgendwann einfach zusticht." Die Gefahr ist groß, nicht nur für die Türkei. Denn die Terroristen haben sich Anschläge in ganz Europa zum Ziel gesetzt. Der IS, den lange viele für tot hielten, ist längst wieder zurück.
Autoren: Katharina Willinger und Ahmet Şenyurt
Stand: 29.07.2024 09:05 Uhr
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