Mo., 23.01.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Tunesien: Aus der Provinz in den Jihad
Der 40jährige Mohamed bringt uns zu seiner Familie – ein ganz banaler Besuch, so mag es erscheinen, aber das stimmt natürlich nicht: Für uns alle ist er bedrückend. Wir sind bei der Familie des Berlin-Attentäters Amri. Die Mutter lässt sich das Bild ihres Sohnes bringen und hält es fest – die hilflose Geste einer Frau, die bis heute die fürchterliche Tat ihres Sohnes nicht verstehen kann. "Ich will wissen, wer meinen Sohn manipuliert hat, wer dahinter steckt. Er hat sich doch erst in Europa radikalisiert. Ich verstehe das nicht." Es ist eine verzweifelte Familie.
Die zwei Brüder, Abdelkader und Mohamed, zeigen uns letzte Bilder von Anis. Wahrscheinlich habe er Drogen genommen, sagen sie – ratlose Erklärungsversuche. "Als er Tunesien verlassen hat, war unser Bruder nicht religiös. Ich glaube, in seiner Zeit im Gefängnis in Italien hat er sich verändert. Dort wurde er indoktriniert."
Wir sind in Oueslatia im Hinterland Tunesiens – die schreckliche Tat von Berlin hat den kleinen Ort plötzlich bekannt gemacht. Doch so wie hier sieht es fast überall im Landesinneren aus. Junge Männer schlagen in den Cafés ihre Zeit tot – die Perspektivlosigkeit, von der man oft spricht, hier wird sie fassbar.
Nicht weit entfernt liegt eine Industrieruine – schon vor Jahren ist diese Textilfabrik abgebrannt. Es war der einzige große Betrieb im Ort. Hassan meint: "Für uns bleibt als Ausweg nur Europa." Einen anderen Weg hat Hassans Bruder Seif genommen – vor drei Jahren ist er nach Libyen gegangen und hat sich dort dem Islamischen Staat angeschlossen. So wie er sind dutzende junge Männer aus Oueslatia verschwunden, zurück bleiben ratlose Familien.
"Nein zu den Rückkehrern", skandieren sie in der Hauptstadt Tunis. Immer wieder gibt es Proteste, auch am Jahrestag der Revolution. Auf mehrere Tausend wird die Zahl der tunesischen Jihadisten geschätzt – sie könnten das Land destabilisieren, fürchten nicht wenige.
Während Mütter mit Bildern nach ihren verschwundenen Söhnen suchen, wehren sich andere kategorisch gegen die Rückkehr von radikalisierten Jihadisten. Die Stimmung ist aufgeheizt. Chemsseddine Rouissi von der Vereinigung gegen den Terrorismus sagt: "Manche sehen in diesen Extremisten doch Freiheitskämpfer, aber wir sagen: Das sind Terroristen. Die können wir hier nicht gebrauchen."
Ein paar Meter weiter demonstriert die Ennahda-Partei. Früher galt sie als islamistisch, nun gibt sie sich gemäßigt. Hier ist man für die Aufnahme der Rückkehrer.
Die polemische Debatte spaltet die Gesellschaft, das weiß man auch im Außenministerium. Und nun kommt der Vorwurf Deutschlands hinzu, Tunesien habe die Rücknahme des Berlin-Attentäters verzögert. Dazu der tunesische Außenminister Khemais Jhinaoui: "Wir haben niemals die Rückführung von Tunesiern behindert. Möglicherweise müssen wir anders mit unseren deutschen Freunden zusammenarbeiten, aber ich glaube nicht, dass es auf unserer Seite ein Versagen gegeben hat." Dass in Berlin mit Kürzungen von Entwicklungshilfe gedroht wird, sieht der Außenminister kritisch – das sei kontraproduktiv.
Zurück in die triste Realität von Oueslatia. Immerhin gibt es hier ein Jugendzentrum, gefördert auch mit ausländischer Hilfe. Jugendliche sollen lernen, einen eigenen Weg zu gehen. Computer-Kurse werden angeboten, und auch Tanz-Unterricht. Wenn man so will, ein kleines Gegen-Modell zur Perspektivlosigkeit.
Unser Besuch bei der Familie des Attentäters geht zu Ende. "Bitte sagt den Deutschen, wie leid es uns tut" – das erklären sie immer wieder. Es ist bis zum Ende ein schwieriger, bedrückender Besuch. Zurück bleibt eine große Leere.
Stefan Schaaf/ARD Studio Madrid
Stand: 13.07.2019 18:22 Uhr
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