Mo., 26.02.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Tunesien: Kaum Jobs, wenig Lichtblicke
In Tunesien gilt er als Märtyrer – der Straßenhändler Mohamed Bouazizi hatte sich hier mit Benzin übergossen – aus Protest gegen Behörden-Willkür.
Dramatischer Freitod hat nichts verändert
Vor gut sieben Jahren war sein dramatischer Freitod der Funke für die Revolution in der arabischen Welt. Sein Cousin Kais Bouazizi zeigt uns ein Foto des berühmten Verwandten. Wir stehen in Sidi Bouzid im Schatten eines klobigen Verkaufskarrens – das ist das Denkmal für den Cousin. Dessen Selbstmord, sagt Kais bitter, sei umsonst gewesen. "Für die Jugend hat sich hier doch überhaupt nichts geändert, obwohl wir in Sidi Bouzid so viel für die Revolution gegeben haben. Die Menschen leben weiter in großer Armut", sagt Kais Bouazizi.
Auf dem Markt hören wir die Klagen der Händler. Polizisten würden sie verjagen oder ihnen die Ware wegnehmen, weil sie keine Genehmigung hätten. Aber richtige Jobs gibt es nur wenige in der Provinz – ein Drittel aller Tunesier arbeitet schwarz, ohne Vertrag, ohne Papiere. In den Cafés von Sidi Bouzid trifft sich Kais mit seiner Clique – sie alle sind arbeitslos. Manchmal schlägt die Perspektivlosigkeit in Wut um – Kais zeigt uns Bilder von Protesten im Januar.
Hoffen auf ein besseres Leben in Europa
Wie in Sidi Bouzid demonstrierten in ganz Tunesien die Menschen gegen gestiegene Preise und Steuer-Erhöhungen. Es gab Randale, Plünderungen und Gewalt. Der Staat zeigt sich ratlos, wenn es um die Wirtschaftskrise geht. "Ich bin im Januar verhaftet worden, wegen meiner kritischen Bemerkungen auf Facebook. Sie verfolgen mich, weil ich bei den Protesten aktiv bin. Das ist unsere Lage hier. An manchen Tagen hat man kaum etwas zu essen. Da ist es doch klar, dass viele nur noch weg wollen, nach Europa", so Kais Bouazizi.
Fast 8000 Tunesier kamen im vergangenen Jahr übers Mittelmeer nach Italien – so viele wie seit der Revolution nicht mehr. In der Hauptstadt Tunis treffen wir Walid Trifi, einen Taxifahrer. Er hat den Weg übers Mittelmeer bereits gemacht und ohne Papiere in Deutschland gelebt. Nun ist er zurückgekehrt. Das Leben als Illegaler, erzählt er, war zu anstrengend.
"Für viele hier ist Europa ein Traum, aber wenn man dort lebt, ist es nur noch Stress. Ich hatte in Hamburg ein Zimmer, im dritten Stock – am Balkon habe ich ein Seil angebracht für den Fall, dass die Polizei kommt. So konnte ich fliehen. Aber nachts habe ich kaum geschlafen", erzählt Walid Trifi.
Wenige Rückkehrer
Nun hat Walid einen Traum – er möchte in Tunis ein Café eröffnen und schaut sich schon einmal in einem Elektrogeschäft um, erkundigt sich nach Kuchen-Vitrinen und Kaffeemaschinen. "Ich bin hier geboren und liebe mein Land. Deswegen möchte ich mir nun etwas aufbauen, für mich und meine Familie", so Walid Trifi. Walids Traum beginnt in diesem Ladenlokal. Hier werden Tunesier wie er, im Auftrag der deutschen Bundesregierung, beraten: über legale Migration, Jobsuche, Starthilfen. Einen Kredit allerdings muss sich der 37 jährige selbst beschaffen – das Zentrum hilft ihm bei den Anträgen. Ein Rückkehrer wie Walid ist ein Paradebeispiel, bleibt aber die Ausnahme. 1500 Tunesier hat das Zentrum bislang erreicht, die meisten von ihnen wollen nach Deutschland. So sieht die erste Bilanz aus.
Vor einem Jahr eröffnete Entwicklungshilfe-Minister Müller das Zentrum in Tunis – Teil seines Marshall-Plans für Afrika. Dazu gehören auch 165 Millionen Euro, die Tunesien erhält. Fluchtursachen sollen bekämpft werden. Solche Projekte helfen, aber die Misere eines Landes können sie nicht beseitigen. (Archiv: März 2017)
Für Aylin Türer-Strzelcyk von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit ist es wichtig, einzelne Erfolge zu sehen: „Für mich ist vor allen Dingen die Arbeit mit den Leuten wichtig, die wir erreichen, wie zum Beispiel Walid, wo ich einfach sehe, unsere Beratung bringt ihm unheimlich viel, und er kommt mit unserer Beratung auch wirklich voran.“
Viele sehen in der illegalen Auswanderung den einzigen Ausweg
Und so gehen die Proteste weiter – gegen korrupte Behörden, eine alte Politiker-Kaste, eine aufgeblähte Bürokratie. Aus Walid Trifi könnte so eine Erfolgsgeschichte werden – der Rückkehrer, der sich in der Hauptstadt Tunis eine neue Existenz aufbaut. Im Hinterland Tunesiens dagegen bleibt die Lage dramatisch. Kais Bouazizi bringt uns in ein Dorf in der Nähe von Sidi Bouzid – die Menschen, die wir hier treffen, stehen noch immer unter Schock.
Elf Jugendliche nur aus dieser Gemeinde sind im Oktober im Mittelmeer ertrunken, ihr Boot soll vorher noch von der tunesischen Marine gerammt worden sein. Nun zeigen uns die verzweifelten Familienangehörigen Fotos der jungen Männer. Sie alle wollten in Europa ein besseres Leben finden.
"Mein Sohn Jassem wollte weg, auch, um mir zu helfen – er wollte, dass wir aus der Armut herauskommen", erzählt die Mutter Zina Hanaehi.
"Die Jugend in Tunesien hat jede Hoffnung verloren, deswegen sehen so viele in der illegalen Auswanderung den einzigen Ausweg. Das ist nicht nur hier so, sondern im ganzen Land", erzählt Kais Bouazizi.
Allein aus diesem Dorf haben sich seit der Revolution zweitausend Jugendliche auf den Weg nach Europa gemacht – trotz aller Gefahren. Der Friedhof von Bir el Haffey – hier liegen die elf jungen Männer begraben. Sie haben es nicht geschafft.
Autor: Stefan Schaaf / ARD Studio Madrid
Stand: 01.08.2019 06:32 Uhr
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