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Ukraine: Mobilisierung spaltet die Gesellschaft

Ukraine: Mobilisierung spaltet die Gesellschaft | Bild: picture alliance / Sipa USA | SOPA Images

Es hat lange gedauert, bis dieser Mann dem Interview mit uns zugestimmt hat. Er ist Ende 20, stammt aus der Ost-Ukraine und will nicht erkannt werden, denn seine Meinung ist in der Ukraine öffentlich ein Tabu: Der Mann will nicht für sein Land kämpfen, aus Angst, an der Front getötet zu werden.
Er sei Pazifist, erklärt uns der Mann. Und wolle schlicht keine Menschen töten, egal wieso. Um der Mobilisierung für die ukrainischen Armee zu entgehen, habe er bereits versucht, das Land illegal zu verlassen. Schon bald will er es noch einmal probieren, kündigt er an.
Und nicht nur er: Auf Telegram finden wir einige Gruppen mit mehreren Tausend Mitgliedern. "Pobeg" heißt diese: "Flucht". Hier berät man sich untereinander, wie man die Ukraine verlassen kann.

Zwangsrekrutierungen

Die Angst, plötzlich mobilisiert zu werden, ist groß. In der Gruppe kursieren viele Videos, die angeblich zeigen sollen, wie Männer auf offener Straße gewaltsam eingezogen werden.
Laut den ukrainischen Behörden wird nach Hunderttausenden untergetauchten Wehrpflichtigen gefahndet. Bei mehr als 40 von ihnen wird vermutet, dass sie bei Fluchtversuchen in Grenznähe gestorben sind.

Die Ukraine steht vor einem Dilemma: An der Frontlinie sterben zehntausende Soldaten; die Armee braucht dringend Nachschub. Gleichzeitig melden sich inzwischen immer weniger Freiwillige, obwohl das Militär intensiv wirbt.

Für uns geht es weiter in die Region Kharkiv, in die Kampfgebiete im Osten des Landes. Was denken die kämpfenden und teils erschöpften Soldaten über die stockende Mobilisierung? Volodymyr Lohunenko kommandiert eine Flugabwehreinheit in der Nähe der Front. Dringend braucht er neue Männer, sagt er uns: "Wenn nur wenige Leute da sind, gibt es keine Chance, sie mal nach Hause oder auf Fronturlaub zu schicken. Wenn die Einheit dagegen voll besetzt ist, gibt es Möglichkeiten zu Erholung. Und alle hier, alle Kämpfer, brauchen Pausen."
Zu ehemaligen Freunden, die vor der Mobilisierung geflohen sind, habe er den Kontakt abgebrochen. Er hält sie für feige, will nichts mehr mit ihnen zu tun haben.

Die Rekrutierung soll nun durch ein monatelang diskutiertes Mobilisierungsgesetz erleichtert werden. Bis Mitte Juli müssen wehrfähige Männer ihre persönlichen Daten in Militärregistern aktualisieren und werden so für die Armee leichter auffindbar. Und es drohen höhere Geldstrafen und Fahrverbote für diejenigen, die sich nicht registrieren oder Einberufungen ignorieren.
Spannung in der Gesellschaft: die Frage der Mobilisierung polarisiert in der Ukraine. Die, die wollen, kämpfen bereits. Die, die nicht wollen, bangen oder planen ihre Flucht.

Am Ende der Recherche rufen wir noch einmal den anonymen Interviewpartner an, der vor der Mobilisierung fliehen will. Noch sei er weiter in der Ukraine, sagt er. Sein dritter Fluchtversuch stehe aber kurz bevor. Ein schlechtes Gewissen habe er deswegen nicht.

Autoren: Tobias Dammers und Vassili Golod / ARD Kyjiw

Stand: 16.06.2024 19:47 Uhr

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