SENDETERMIN So., 26.01.25 | 18:30 Uhr | Das Erste

Ukraine: Niedrige Geburtenrate – verliert das Land seine Zukunft?

Ukraine: Niedrige Geburtenrate | Bild: WDR

Bei Tanja haben die Wehen eingesetzt. Sie erwartet ein Mädchen, könnte noch heute zum dritten Mal Mutter werden. Tanjas Mann kann sie bei der Geburt nicht unterstützen. Er darf die Front nicht verlassen, meldet sich nur per Handy. "Es ist moralisch sehr schwierig, weil es jetzt überall gefährlich ist. Aber ich habe mich entschieden, das Kind zu bekommen, weil Kinder Glück bedeuten", sagt sie. Wie auch andere werdende Mütter wünscht sie sich für ihre Kinder nichts sehnlicher als eine Zukunft ohne russische Raketen. Sie hofft "...dass Frieden und Ruhe einkehren. Dass Flugzeuge wieder fliegen. Dass Kinder sehen, wie Flugzeuge fliegen. Und dass wir einen freien Himmel haben."

Herausforderung von Geburten während des Krieges

Luftalarm in der Stadt Tschernihiw. Mal wieder. Gefahr auch für die Kleinsten hier. Für Kinderkrankenschwester Tetiana Derjuha und ihre Kolleginnen bedeutet das: schnell sein. Russland und Belarus sind nur etwa 60 Kilometer entfernt. Raketen können die Stadt in wenigen Minuten erreichen. Mütter mit Neugeborenen müssen deshalb in den Keller oder in den Flur. Die Wände im Gang sollen bei möglichen Einschlägen vor Druckwellen schützen. "Am Anfang hatte ich große Angst um Kinder und Mütter. Du trägst die ganzen Kinder raus, die Fahrstühle funktionieren nicht, du läufst die Treppen runter. Aber auch daran haben wir uns gewöhnt. Natürlich hast du Angst und machst dir Sorgen, aber es ist zur Gewohnheit geworden", erzählt die Kinderkrankenschwester.

Seit mehr als 30 Jahren ist Tetiana Kinderkrankenschwester. Sie hatte Tausende Neugeborene in ihren Armen. Doch mit Beginn des russischen Überfalls sind die Zahlen drastisch gefallen. Millionen Frauen haben die Ukraine verlassen. Viele von denen, die bleiben, verschieben den Kinderwunsch in die Zukunft. Wer sich wie Kateryna entscheidet, im Krieg schwanger zu werden, setzt sich einer extrem hohen Belastung aus. Oft kommt es zu Frühgeburten. "Wir wollten ein zweites Kind haben und sind das Risiko eingegangen, mitten im Krieg schwanger zu werden und zu entbinden. Ich glaube, dass der Krieg einen großen Einfluss hatte. Ich bin Mutter. Ich stehe ständig unter Stress und dadurch kam es auch zu der Frühgeburt. Babys werden trotzdem geboren. Denn ohne Kinder zu bekommen, wie sollen wir dann weiterleben?", sagt Kateryna.

Niemand weiß, wie lange der Krieg noch geht. Die Verantwortung werdender Eltern: kaum vorstellbar. Die Zukunft der Kinder hier: ungewiss. Weil der Ukraine Soldaten fehlen, wird intensiv darüber diskutiert, das Einberufungsalter zu senken. Tetiana Derjuha ist nicht nur eine Kinderkrankenschwester im Krieg, sondern selbst Mutter: "Wenn man diese Kinder in den Tod schickt, was wird dann in zehn Jahren aus der Ukraine? Ja, ich verstehe, dass man den Druck auf uns erhöht, das Einberufungsalter zu senken. Aber obwohl ich selbst einen Sohn im Krieg habe und jemand ihn dort ablösen könnte, bin ich dagegen, dass 18-jährige Jungs und Mädchen in den Krieg ziehen."

Bei sich Zuhause zeigt uns Tetiana ein Video von ihrem Sohn Bohdan. Er kämpft seit Monaten im Donbas, an einem der gefährlichsten Frontabschnitte. "Ich habe große Angst um ihn. Morgens lese ich als erstes immer Nachrichten", sagt sie. Fast alle Männer aus Tetianas Familie waren oder sind im Krieg. Jeden Tag hat sie vor der Haustür die Folgen der russischen Angriffe vor Augen: Von dem Haus, in dem Tetianas Mutter lebte, ist nur noch das Fundament geblieben. Ihre Schwiegermutter wurde 2022 durch Beschuss getötet, ihr Haus zerstört. "Ich habe Verständnis dafür, dass Eltern ihre Kinder außer Landes bringen. Und das obwohl zwei meiner Männer Soldaten sind und es meinen jüngsten Sohn auch treffen könnte", findet Tetiana.

Unklare Zukunft für junge Ukrainer:innen

Ukraine: Im Lande bleiben oder die Ukraine verlassen? Eine Schulbank – zwei Meinungen.
Ukraine: Im Lande bleiben oder die Ukraine verlassen? Eine Schulbank – zwei Meinungen. | Bild: WDR

Vom Klassenzimmer direkt an die Front – das wäre die Vorstellung der US-Regierung, um der ukrainischen Armee mehr Soldaten zu verschaffen. Die Ukraine sollte bereits 18-Jährige zum Militärdienst einberufen, fordern die USA. Doch die ukrainische Militärführung lehnt das bislang strikt ab. Trotzdem gibt es Eltern, die ihre Söhne noch vor dem Schulabschluss ins Ausland schicken. Auch an diesem Gymnasium in Tschernihiw wird das Thema intensiv diskutiert. Im Land bleiben und vielleicht an die Front gehen – oder die Ukraine verlassen, solange die Ausreise möglich ist?

Eine Schulbank, zwei Meinungen:

"Das alles hat großen Einfluss auf unser Leben, auf unsere Pläne. Menschen sterben und Menschen werden in den Krieg geschickt. In diesen Zeiten kann man nicht in Ruhe leben. Vielleicht ist es jetzt die beste Option, in ein anderes Land zu ziehen und sich dort ein Leben aufzubauen", erzählt der 16-jährige Dmytro.

"Ich liebe mein Land und sehe es als Bürgerpflicht an, die Unabhängigkeit mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Wenn ich 18 bin, plane ich deshalb, in die Armee zu gehen", sagt der 15-jährige Maksym.

Eigentlich wollte Maksym Geschichte studieren, Dmytro Software-Designer werden. Jetzt bestimmt der Krieg ihre Lebensplanung. Und er gefährdet die Zukunft der Ukraine. In keinem Land der Welt ist die Geburtenrate niedriger und die Sterblichkeit höher. Die Ukraine steckt in einer Demografie-Krise, sagt die Wissenschaftlerin Ella Libanowa. Aktuell besetzt Russland etwa 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets. Millionen Menschen, die dort geblieben sind, stehen der ukrainischen Wirtschaft nicht mehr zur Verfügung. Um demografisch gegenzusteuern, müsse der Krieg enden. "Niemand kennt die Grenze, nach der sich die Ukraine nicht mehr erholen kann. Ich meine die demografische Grenze. Niemand kennt sie. Ich weiß es nicht, aber ich fürchte, dass wir uns dieser Grenze nähern. Natürlich besteht dieses Risiko. Wir werden getötet, getötet, getötet. Wir bekommen keine Kinder, keine Kinder, keine Kinder", erklärt Ella Libanowa.

Neues Leben in der Entbindungsklinik von Tschernihiw. Der kleine Lew kommt per Kaiserschnitt auf die Welt. Und auch Tanja hält ihre kleine Tochter Sofia zum ersten Mal im Arm. Sie alle hoffen darauf, dass aus Krieg so schnell wie möglich Frieden wird.

Autor: Vassili Golod / ARD Kiew

Stand: 26.01.2025 20:19 Uhr

2 Bewertungen
Kommentare
Bewerten

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Bitte beachten: Kommentare erscheinen nicht sofort, sondern werden innerhalb von 24 Stunden durch die Redaktion freigeschaltet. Es dürfen keine externen Links, Adressen oder Telefonnummern veröffentlicht werden. Bitte vermeiden Sie aus Datenschutzgründen, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Fragen zu den Inhalten der Sendung, zur Mediathek oder Wiederholungsterminen richten Sie bitte direkt über das Kontaktformular an die ARD-Zuschauerredaktion: https://hilfe.ard.de/kontakt/. Vielen Dank!

*
*

* Pflichtfeld (bitte geben Sie aus Datenschutzgründen hier nicht Ihre Mailadresse oder Ähnliches ein)

Kommentar abschicken

Ihr Kommentar konnte aus technischen Gründen leider nicht entgegengenommen werden

Kommentar erfolgreich abgegeben. Dieser wird so bald wie möglich geprüft und danach veröffentlicht. Es gelten die Nutzungsbedingungen von DasErste.de.

Sendetermin

So., 26.01.25 | 18:30 Uhr
Das Erste

Produktion

Westdeutscher Rundfunk
für
DasErste