So., 13.09.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ukraine: Im Krieg eingerichtet
Mit diesen Soldaten der ukrainischen Armee ist unser Kollege auf dem Weg in die umkämpfte Stadt.
Es ist der 5. September, einige Tage nach dem letzten offiziellen Waffenstillstand. Für ihn ist es eine seltsame Rückkehr: Er kennt den Ort und diesen Turm mit der ukrainischen Flagge, vor ein paar Tagen wäre er 150 Meter weiter, in der gegnerischen Stellung, fast umgekommen.
Kampf um einen alten Förderturm
Das sind die Bilder von damals: der Blick von den Aufständischen auf genau denselben alten Förderturm. Seit Monaten gebe es um ihn heftige Gefechte, erzählten sie.
"Was ist denn eigentlich mit dem Friedensabkommen von Minsk?", fragte der Kollege damals. "Gucken Sie mal unser Dach an." ist die Antwort eines Kämpfers: "Da sehen Sie das Minsker Friedensabkommen."
Donezk ist mittlerweile von Schützengräben durchzogen. Hier tobt seit zehn Monaten ein zermürbender Stellungskrieg, kaum Raumgewinn für eine der beiden Seiten.
Krieg und Politik
Fernsehpause: So sah der Alltag an der Donezker Front aus, sie hier kämpfen eigentlich für die Unabhängigkeit vom ukrainischen Staat, aber von den großen Zielen wollte hier keiner mehr etwas wissen: "Das ist Politik. Politik ist ein schmutziges Geschäft. Ich bin Kämpfer und kein Politiker." "Das heißt", fragt unser Kollege, "du kämpft nur für deine Jungs." "Ich kämpfe nur für meine Jungs und für ihre Stadt. Das ist auch meine Stadt."
Dann Schusswechsel, ein Kämpfer geht seelenruhig Spazieren. "Ich bin das gewöhnt", sagt er. Die Aufnahmen wurden am 23.8.2015 gemacht, an einem Tag, an dem die OSZE rund um Donezk "weiter abnehmende“ Kampfhandlungen verzeichnete.
"Das ist noch kein Kampf. Das geht erst am Abend richtig los: da schießen die mit Flaks, da gibt es Panzerwagen und Minenwerfer und so Zeug."
Menschen im Niemandsland
Ein Kämpfer mit Pistole auf dem Lenkrad nahm damals unseren Kollegen in der Feuerpause in die Stadt mit. Im Niemandsland leben tatsächlich noch Menschen, die sich weigern, ihre Heimat zu verlassen. Sie müssen sich selbst versorgen.
Eine Bewohnerin sagt: "Na, wir leben. Ich denke nicht drüber nach, die Siedlung zu verlassen. Es gibt Kinder hier. Es gibt Leute, die geflohen sind, ja, aber die haben dann wieder umgedreht. Keiner kann uns draußen irgendwo brauchen."
Auch die Bewohner direkt an der Front haben sich komplett auf den Krieg eingestellt: Immer wenn geschossen wird, leben sie im Keller - auch sie natürlich mit Fernseher an der Wand.
Kampf ab Sonnenuntergang
Pünktlich zum Sonnenuntergang begann an diesem Tag der eigentliche Kampf. Hektik: "Alle nach draußen!" Unser Kollege lief mit der Kamera mit, es wurde lebensgefährlich. Der Kollege flüchtete zurück in den Keller. Und die Frage aller Fragen: "Warum wird hier überhaupt geschossen?" Ein Kämpfer: "Warum die schießen? Die haben nichts anderes zu tun. Denen ist langweilig oder die haben eine Show abgezogen."
Am 5. September ist unser Kollege also dann bei denen, die sich angeblich langweilen: Essenausgabe bei den Ukrainern, es sieht alles gleich aus, unheimlich gleich, sogar der Fatalismus ist ähnlich.
Ein Soldat: "Eigentlich musst du hier jeden Tag Geburtstag feiern, aber du spürst nichts mehr, sogar die Wunden nicht mehr. Jeder ist hier schon getroffen worden, zwei oder dreimal." "Wie oft wurdest du getroffen?" "Zweimal."
Und wieder versucht der Kollege, im Auto näher an die Stadt zu kommen. Waffenstillstand, eigentlich ungefährlich, eigentlich: "Der hat direkt auf uns gezielt; ein Sniper; Pech für den, wir waren schon zu weit." sagt der Soldat.
Weniger Kämpfe
Abbruch des Versuches, rein in den Schützengraben, es wird wieder ruhig. Am Ende begleitet der Kollege die ukrainische Abendpatrouille, möglicherweise dieselben Leute, die vor Tagen auf ihn geschossen haben. Es würde jetzt schon weniger gekämpft, sagen sie.
Ein Soldat: "Wenn es hier mal ruhig ist, macht mich das völlig nervös. Wir haben gelernt, dass nach so einem Waffenstillstand es umso schlimmer wieder losgeht, Gnade uns Gott. Solange geschossen wird wie jeden Abend, ist das einfacher."
Lieber Kriegsroutine als Waffenruhe, schlimmer als Schutt und Asche ist die Tatsache, dass sich die Menschen hier im Krieg eingerichtet haben. Auch wenn die Diplomatie Erfolg haben sollte, bis zum wirklichen Frieden ist es ein langer Weg.
Autoren: Leonid Kanfer und Stephan Stuchlik, ARD Moskau
Stand: 15.09.2015 15:48 Uhr
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