So., 28.02.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
USA: 'Black Lives Matter'-Proteste und die Folgen
Sie wollte immer Polizistin werden – genau wie einst ihre Mutter. In ihrem Viertel , der Südbronx , gehört die Polizei zum Alltag, genau wie die hohe Kriminalität. Chantel Johnson wollte etwas von innen verändern. Sie studierte Kriminaltechnik und bewarb sich bei der Polizei-Akademie. "Davon habe ich mein gesamtes Leben geträumt. Ich habe mich angestrengt, gute Noten zu bekommen, ich habe mich bei den US-Marshalls beworben und bin zum College gegangen – bis ich das gesehen und erfahren habe", erzählt sie.
Polizeigewalt bei 'Black Lives Matter'-Protesten
Am 4. Juni 2020 gerät ihre Welt aus den Fugen, als sie bei einem 'Black Lives Matter'-Protest gegen Polizeigewalt demonstriert. Plötzlich steht sie auf der anderen Seite, wird Zeugin von Gewalt der Polizei gegen friedliche Demonstranten. "Viele Menschen wurden verletzt, ich hörte Knochen brechen. Ich habe einen Mann gehalten und habe gefühlt, wie er geschlagen wurde. Ich musste meine Finger schützen, weil ich die Schlagstöcke auf seinem Rücken spürte", berichtet Chantel.
Der Polizeikessel von Mott Haven in der Südbronx gilt als einer der brutalsten Polizeieinsatze während der 'Black Lives Matter'-Proteste des letzten Jahres in New York. Vor Ort war auch Conrad Blackburn, hier mit roter Mütze. Er gehört zu Bronx Defenders, einer Gruppe von Anwälten, die den Armen aus der Bronx Rechtsbeistand leisten und war ganz legal als Beobachter dabei: "Ich habe gesehen wie die Polizei eine andere Rechtsbeobachterin gerammt hat, die genau wie ich ein Recht hatte, da zu sein und nicht angefasst zu werden. Sie haben ihr die Papiere weggenommen."
Die Gewalt richtete sich gegen friedlich Demonstrierende
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat den Vorfall dokumentiert und in dieser Grafik verdeutlicht, wie die Polizei die Demonstranten eingekesselt hat. Immer enger wurden sie zusammengepresst, niemand durfte den Kessel verlassen. Die Polizei setzt Pfefferspray, Tränengas und Schlagstöcke ein. Dass sie dabei gefilmt werden, stört die Polizisten offenbar nicht – sie fühlen sich im recht. Nach dutzenden Interviews kommt Human Rights Watch zu einer klaren Bewertung der Ereignisse. "Unsere Recherchen zeigen eindeutig, dass dies ein geplanter Angriff auf friedlich Protestierende war, und zwar vom höchsten Polizeioffizier der Stadt, Terrence Monahan", sagt Ida Sawyer von Human Rights Watch.
Der Polizeichef des NYPD hatte den Einsatz persönlich angeführt und sich auch später niemals entschuldigt. Ein Interview hat er abgelehnt. Acht Monate danach treffen wir uns am Schauplatz mit Andom, einem der Protestierenden. Er ist Lehrer und sieht wie seine Schüler in der Süd-Bronx ständig ausgegrenzt und benachteiligt werden. Er war mitten im Kessel, zusammengequetscht mit hunderten Anderen. "Ich konnte Leute schreien hören: ich kann nicht atmen, Sie haben geweint. Es ist ein trauriger Zufall, dass das der Refrain der 'Black Lives Matter'-Bewegung im ganzen Land war. Die Ironie ist, wir sind gekommen um gegen Polizeigewalt zu protestieren und wurden von bösartiger Polizeigewalt empfangen", erzählt der politische Aktivist. "Ich musste meiner Mutter texten, dass ich es vielleicht nicht nach Hause schaffe, so viel Angst hatte ich, als die Polizisten ohne Grund geprügelt haben. Mit Schlagstöcken – ohne Grund", sagt Chantel.
Klagen gegen die Polizei für die Gerechtigkeit
Auch jetzt, acht Monate später wird in New York noch protestiert. Vor dem Büro der Generalstaatsanwältin Letitia James versammeln immer wieder kleinere Gruppen. Und es scheint, sie werden gehört. Letitia James verklagt jetzt die Polizei – nicht nur wegen Mott Haven. "Wir haben einen ungeheuerlichen Missbrauch von Polizeimacht gefunden. Zügellosen Einsatz von Gewalt und den Unwillen, das zu beenden. Deshalb haben wir jetzt Klage eingereicht", sagt sie.
Auch der Zivilrechts-Anwalt Wiley Stecklow ist empört und will etwas verändern. Mit einer Sammelklage im Namen von 35 verletzten Demonstranten zieht er ebenfalls gegen die Polizei vor Gericht: "Wir sind an einem Wendepunkt. Es gibt drei Faktoren: die Anwälte, Aktivisten und Gesetzgeber ziehen hier an einem Strang. Das kann große Veränderungen bringen." Trotz oder sogar wegen der rohen Polizeigewalt hoffen auch viele 'Black Lives Matter'-Aktivisten auf eine Wende: "Jeder kann jetzt sehen, wie die New Yorker Polizei arbeitet. Besonders in der Bronx. So wie die öffentliche Wahrnehmung sich ändert, so wird sich auch das Verhalten des NYPD ändern müssen. Es gibt Hoffnung. Die größte Veränderung ist die Wahrnehmung der Polizeiarbeit in Amerika. Darüber haben die Leute früher nie nachgedacht. Wir können überdenken, was Sicherheit für uns bedeutet und wie Amerika aussehen soll."
Chantel hat auch acht Monate nach Mott Haven noch Alpträume und doch ist auch sie optimistisch und glaubt, dass der erste Schritt auf dem Weg zur Veränderung getan ist. "Die Leute sehen jetzt genauer hin, sie empfinden Anteilnahme und Mitgefühl. Sie ändern ihre Ansichten. Sie sehen uns Menschen dunkler Hautfarbe als Menschen", erzählt sie. Ihren Traum Polizistin zu werden, hat Chantel aufgegeben. Teil der NYPD-Kultur will sie nicht sein, stattdessen wird sie in Zukunft Kinder unterrichten – besonders zum Thema Bürgerrechte.
Autorin: Christiane Meier / ARD Studio New York
Stand: 28.02.2021 19:50 Uhr
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