So., 17.11.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Kolumbien/Venezuela: Der größte Flüchtlingstreck Lateinamerikas
Seit in Venezuela die Lebensmittel knapp sind und der Strom ausgeht, reißt der Strom der Flüchtlinge nicht ab. Fünf Millionen sollen es bis Jahresende werden. Und die meisten suchen Schutz in Kolumbien. Das Land wird förmlich überrannt vom größten Flüchtlingstreck in der Geschichte des Kontinents. Menschen, die hier Schutz und ein Auskommen suchen. Ein sozialer Vulkan.
Überleben als Kampf
Sie kommen. Jeden Tag. Die einen Venezolaner wollen in der kolumbianischen Grenzstadt Cucuta Lebensmittel kaufen, andere wie Adanelyn Corrales: einwandern. Den Sohn auf dem Arm und ein kleiner Koffer, darin verpackt das Leben, das ihr bleibt. "Die Situation in Venezuela ist bedrohlich: Wenn du die Regierung nicht unterstützt, bekommst du kein Essen. Emotional tut es weh, weil ich meine Familie zurücklasse." Das Ziel der 30-jährigen: Die Hauptstadt Bogotá, 600 Kilometer entfernt, auch wenn Adanelyn gehört hat: das Überleben dort soll für Venezolaner sehr schwierig sein.
Überleben ist ein Kampf. Egal wie fest Andruss in die Pedale tritt, es reicht kaum zum Leben. Er verdient etwa 10 Euro am Tag für 12 Stunden Arbeit als Essenslieferant. "Mein Selbstwertgefühl sinkt. Weil, das hier ist nicht mein Leben", klagt Andruss Morales." Aber gut, ich muss positiv denken. Wir können hier halt nicht wählerisch sein." In Venezuela kontrollierte Andruss am Hafen die Ein- und Ausfuhr, war gute Mittelschicht. Er habe sich abgekämpft, um in Bogotá ordentliche Arbeit zu finden. Unterstützung vom kolumbianischen Staat aber gebe es keine. "Was würdest du an meiner Stelle tun? An wen würdest du dich wenden? Wie würdest du Arbeit finden? Wenn du niemanden kennst. Wenn du ganz allein bist."
Verlierer auf beiden Seiten
1,5 Millionen Venezolaner sind offiziell nach Kolumbien geflohen. Die Dunkelziffer, schätzen Experten, könnte bei über zwei Millionen liegen. Die meisten bleiben in Bogotá. Sichtbar sind vor allem die, die keine Arbeit finden. Die den Frust auf ihren Präsidenten herausschreien. Kolumbien hat viele eigene Probleme. Der Friedensprozess ist brüchig. Studenten protestieren gegen staatliche Korruption, die ihnen das Geld stehle.
Und jetzt noch die vielen Venezolaner – da wächst der Zorn. "Ich habe sehr gute Freunde aus Venezuela", meint der Kolumbianer Camilo Diaz. "Aber es sind auch sehr schlechte Menschen gekommen, die Böses tun." Und der Kolumbianer Herman Hernandez sagt: "Sie nehmen uns die Arbeit weg. Statt einem Kolumbianer werden zwei Venezolaner eingestellt." Jobklau und Ausbeutung. Die Massenflucht der Venezolaner schafft reale Verlierer auf beiden Seiten. "Statt acht Stunden, was legal wäre, musste ich schon zwölf oder vierzehn Stunden arbeiten für weniger als den Mindestlohn", erzählt Andruss Morales.
Wir treffen Claudia Lopez, als sie von Termin zu Termin eilt. Unser Thema mag die neue Bürgermeisterin von Bogotá nicht gerne. Sie will weder Fremdenfeindlichkeit schüren noch dulden. "Die Menschen fangen an, Mythen zu erfinden. Dass es wegen der Venezolaner zu mehr Überfällen kommt. Es gibt keinerlei Beweis dafür. Wir müssen die Fremdenfeindlichkeit bekämpfen, Aufnahmezentren schaffen aber auch garantieren, dass Kolumbianer ihre Jobchancen behalten.
Die grüne Grenze mit Venezuela sei zu groß, um die Einwanderung zu stoppen. Zu helfen eine Frage der Menschlichkeit und der Moral. Denn Venezuela habe über Jahrzehnte hinweg Flüchtlinge aus Kolumbien aufgenommen. "Die Menschen fliehen doch nicht aus Spaß, sondern weil dort eine Diktatur herrscht, die die Menschen verhungern lässt. Wir müssen also alles dafür tun, dass dort wieder Demokratie herrscht und die Menschen in ihr Land zurückkehren."
"Wir sind hier völlig rechtelos"
Demokratie in Venezuela? Das könnte noch lange dauern! So lange wollte Ana Flores nicht warten. Sie ist illegal im Land. Schafft an als Prostituierte – eine andere Arbeit habe sie nicht gefunden.
"Wenn du nach einem Job fragst sagen sie: Du bist Venezolanerin? Wir wollen dich nicht! Dann denkst du: Dir bleibt nur noch klauen. Es ist nicht einfach mit jemandem ins Bett zu gehen, den du nicht magst, der schlecht riecht, der dich nicht anmacht. Es ist ekelhaft. Super, super ekelhaft. Stundenlanges Hoffen auf einen Freier, gepaart mit Angst. Wer illegal arbeitet, sei Freiwild. "Wir sind hier völlig rechtelos. Wir können Misshandlungen nicht anzeigen. Es gibt welche die dich schlagen, vergewaltigen, missbrauchen. Es ist schwer, das Leben hier ist hart."
Andruss hat einen langen Tag mit wenig Einkommen hinter sich gebracht. Er teilt sich 10 Quadratmeter mit einem weiteren Flüchtling. Das Wasser stehe ihm bis zum Hals, er kann seiner Familie in Venezuela kein Geld schicken. Würde das Geld nur reichen, Andruss würde seine Familie gerne zu sich holen. "Nächste Woche wird mein Sohn vier Jahre alt. Am Mittwoch. Und alles wird immer schwerer. Ich verstehe die Kolumbianer in vielerlei Hinsicht. Sie müssen die Einwanderung kontrollieren, sie ist ihnen aus den Händen geglitten. Es geht ihnen wirtschaftlich auch nicht gut und die Tatsache, dass wir hier sind, belastet sie noch mehr."
Im Morgengrauen erreicht der nächste Bus aus der Grenzstadt Cucuta die Hauptstadt, mit neuen Venezolanern und mit Adanelyn an Bord, die sich ganz klein fühlt. "Ich weiß nicht, was mich hier erwartet, wie sie mich behandeln werden, wie es hier um mein Glück steht." Wieder eine Familie, die hofft: auf Solidarität und ein besseres Leben in Kolumbien.
Ein Film von Xenia Böttcher, ARD-Studio Mexiko
Stand: 18.11.2019 15:06 Uhr
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