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Chile: Aufstand im wirtschaftlichen "Musterstaat"

Chile: Aufstand im wirtschaftlichen "Musterstaat" | Bild: dpa / picture-alliance

Vielen Ökonomen galt Chile als das einzig erfolgreiche Beispiel in Lateinamerika. Doch jetzt begehrt die Mehrheit auf. Zu ungleich die Verteilung des Reichtums und die Macht zu stark auf eine kleine Elite vereint. Chile wird zum Symbol für eine Strukturkrise und das Systemversagen der Politik auf dem ganzen Kontinent.

Reiches Land – ungleiche Verteilung des Wohlstands

Er filmt die Polizisten genau in dem Moment, als sie anlegen und schießen. Es ist sein Video und er hat Glück gehabt. Das Gummigeschoss erwischte seinen Kopf nur ganz leicht. "Ich dachte erst, es wäre ein Stein gewesen", erzählt Gustavo.

Polizist zielt mit Gewehr
Die Polizei schießt mit Gummigeschossen  | Bild: SWR

"Dann kam einer von den anderen Demonstranten und sagte, hey, du blutest." Wir sollen ihn Gustavo nennen. Der richtige Name geheim, sein Gesicht aber will er trotzdem zeigen – natürlich auch seine Videos. Es sind kleine Filme über Chiles große Protestbewegung. Der Filme-Macher als eine Art Kriegs-Reporter, der selbst mitkämpft. "Chile ist wie ein Dampfkocher, der einfach explodieren musste. Das habe ich immer gesagt."

Santiago im November. Eine Stadt in Aufruhr. Immer wieder begleiten wir die Proteste mit unserer Kamera, um uns selbst ein Bild zu machen – auch von solchen Szenen: Tränengas, Schüsse auf Kopfhöhe. Manche Polizisten zielen offenbar bewusst auf die Augen von Demonstranten. Die Opfer: Randalierer, aber auch Unbeteiligte. Angst zeigen Gustavo und die anderen hier trotzdem nicht. Es geht ums große Ganze.

Demonstranten mit Plakaten
Seit Wochen demonstrieren Chilenen gegen die Regierung  | Bild: SWR

"Wir marschieren jeden Tag, bis die Verfassung unseres Landes wirklich geändert wird. Die stammt ja noch aus der Diktatur. Jetzt ist der Moment! Damals in den 80ern haben wir es nicht geschafft." Sie stellen die Systemfrage, wollen etwa ein Recht auf bezahlbare Bildung – in einer neuen Verfassung. Chile ist das reichste Land Südamerikas, aber nirgendwo ist der Wohlstand so ungleich verteilt wie hier. Präsident Piñera – ein Multimilliardär. Millionen andere Menschen in Armut.

Im Viertel La Victoria leben die meisten vom Mindestlohn. Etwa 300 Euro im Monat. Die Lebenshaltungskosten: kaum geringer als in Deutschland. "Wir brauchen Kleidung, Benzin, um zur Arbeit zu fahren", sagt Ingrid Llaulén. "Wir müssen Essen kaufen im Laden, aber im Laden sind die Sachen auch nicht billig." Zuletzt hatte Ingrid in einem Hotel gearbeitet, dann verlor sie die Stelle und schlägt sich nun mit Gelegenheitsjobs durch. Die kleine Wohnung teilen sich schon jetzt drei Familien. Nur so können sie sich den Strom leisten.  "Warum nur diese Ungerechtigkeit, ich verstehe das nicht. Die Reichen machen sich die Taschen voll, die Armen betteln um die Reste."

Eine neue Verfassung als Neubeginn?

Zwischen Kapitalismuskritik und Klassenkampf. In Chile ist es nicht einfach, die Wohlhabenden vor die Kamera zu bekommen. Bilder von Gewalt und Plünderungen haben Spuren hinterlassen. Der Textilunternehmer Gonzalo Heresi ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, exportiert in die USA, beliefert Luxushotels. Er möchte reden, weil er sich Sorgen mache um die Wirtschaft. "Ja, es ist schwierig. Die Verkäufe zum Beispiel laufen schlechter. Ich hoffe, dass die Unruhen nicht ewig weitergehen."

Hier die Wut der Straße – dort die Wiesen der Golfplätze und von Elektrozäunen umgebene Villen. Gonzalo lädt uns zu sich nach Hause ein. Er und seine Frau hätten viel über die Forderungen der Demonstranten nachgedacht. Gute Schulen für alle, eine bessere Gesundheitsversorgung für Arme – ja, in Chile müsse sich vielleicht wirklich einiges ändern. "Früher habe ich mir als Unternehmer nur Gedanken um die Zahlen, um den Profit gemacht. Jetzt merke ich, dass ich mich ein wenig mehr für das Wohlbefinden meiner Mitarbeiter interessieren muss. Absolut: Wir sind produktiver, wenn sich alle wohl fühlen."

Menschen sitzen im Kreis und diskutieren
Offene Versammlungen diskutieren die Zukunft Chiles | Bild: SWR

Was für ein Land soll Chile werden? In den sogenannten "Cabildos abiertos" versuchen sie genau diese Frage zu beantworten. Offene Versammlungen, jeder darf teilnehmen. Diskutieren statt protestieren – dazu immer auch ein bisschen Straßenfest. Ingrid und ihre Nachbarn aus La Victoria sind dabei, neben vielen anderen Menschen aus nahezu allen Schichten. "Wir wollen ein Land, das keinen ausgrenzt", fordert Javiera Parada. "Bis jetzt leben wir in einem Land, indem es Bürger 1. und 2. Klasse gibt." Am Freitag dann die historische Einigung der Parlamentsfraktionen: In einem halben Jahr soll es tatsächlich ein großes Verfassungsreferendum geben. Mögliche Geburtsstunde eines sozialeren Landes – aber auch ein Ende der Gewalt? Krawall-Filmer Gustavo meint, man müsse den Politikern weiter ordentlich Druck machen. Und doch scheint auf den Straßen Santiagos jetzt die Hoffnung zurück – auf einen neuen chilenischen Frieden.

Ein Film von Simon Riesche, ARD-Studio Rio de Janeiro

Stand: 18.11.2019 13:49 Uhr

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