Mo., 01.10.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Bolivien: Sterneküche für Arme
Diese Geschichte beginnt in einem Armenviertel von Bolivien, El Alto: ein ungemütlicher Millionenmoloch mit unzähligen Zuwanderern vom Land. So wie Claudia Condori: In einem winzigen Haus lebt die alleinstehende Mutter mit ihren vier Kindern. Vor zwei Jahren veränderte sich Claudias Leben radikal. Grund war ihre Leidenschaft fürs Kochen – ihre Liebe für die bolivianische Küche: "Für mich als Frau ist es schwierig, den Beruf und die Kinder unter einen Hut zu bringen. Aber wenn man es wirklich will, schafft man es auch."
Die Bauernmärkte von El Alto
Seit sie denken kann, pilgert Claudia zu den Märkten der indigenen Bauern in El Alto. Hier findet sie noch die traditionellen Zutaten ihrer Vorfahren vom Land: Dutzende Wurzel- und Zwiebelsorten, Nüsse und höllisch scharfe Chilischoten.
Claudia bestellt auf Aymara, der Sprache der Ureinwohner, Kartoffelsorten, die sie für ihre Arbeit benötigt. Und chilto, eine gelbe Frucht mit einer besonderen Wirkung: "Mit dieser Frucht, glauben wir Aymara, lernen Babys schneller sprechen. Und ich nutze sie jetzt für ein Sterne-Menü in einem Gourmet-Restaurant."
Denn Claudia fährt jeden Tag mit der Seilbahn von El Alto 45 Minuten hangabwärts nach La Paz. Es ist eine Reise in eine andere Welt: Das Gustu ist eines der besten Restaurants von Südamerika. Gerade werden Quinoa-Bällchen frittiert. Im Gustu kommen ausschließlich traditionelle bolivianische Zutaten auf den Tisch, zubereitet von einer jungen Mannschaft, zu der seit zwei Jahren auch Claudia aus El Alto gehört. Sie ist eine der talentierten Köchinnen aus einfachen Verhältnissen, die hier eine Ausbildung und eine Chance erhalten – auf höchstem kulinarischem Niveau: "Ich fühle mich wie eine Bergsteigerin, die einen Gipfel erklimmt. Gleichzeitig ist das etwas völlig Neues, denn in meiner Familie gab es noch nie einen Gastronomen."
Deshalb stellt gerade auch ein neugieriger englischer Radiokorrespondent Fragen. Claudia trägt ihre Geschichte in die Welt – vor den Augen ihrer Chefin Sumaya Prado, der Restaurantleiterin des Gustu: "Claudia ist stolz darauf, eine authentische bolivianische Köchin zu sein, stolz auf Bolivien und die vielfältigen Produkte, die es hier gibt, und natürlich auch stolz auf die traditionellen Kleinbauern, die diese Vielfalt erhalten."
Traditionelle Landwirtschaft
Boliviens Hochland – 4000 Meter über dem Meer. Hier züchten die Bauern noch mehrere tausend Kartoffelsorten, wie die süße "Chuña", deren Schale traditionell weich getreten wird.
Quinoa ist für die Bauern hier kein Superfood, sondern schlicht seit Jahrhunderten neben Kartoffeln das Nahrhafteste was ihr Boden hergibt, wie Bäuerin Lucia Mamani erklärt: "Wir bauen Quinoa und Kartoffeln frei von Chemie an. Die moderne Landwirtschaft nutzt zu viel davon. Wir aber wollen wie unsere Vorfahren lange gesund leben."
Täglich essen sie Süßkartoffelsuppe mit Quinoa, Zwiebeln und Kräutern, denn das ist günstig und ernährt die ganze Familie auf dem kargen, kühlen Andenhochland Boliviens.
Von den Ureinwohnern lernen wollen ganz bewusst auch die Macher des Gustu: Sterneküche – ausschließlich mit heimischen Zutaten, so wie weißes Alligatorfleisch aus dem bolivianischen Urwald oder Cocktails mit dem Aroma des Koka-Strauchs. Sogar der Wein kommt aus den Höhenlagen Boliviens.
Die Macher des Gustu wollen mit ihren ausgefeilten Kreationen die kulinarische Vielfalt Boliviens erhalten und nebenbei sozial Schwächeren eine Perspektive bieten.
Auf dieses Konzept ist sogar Papst Franziskus aufmerksam geworden – und hat Claudia und ihre Kollegen in den Vatikan eingeladen. Ein Menü – extra für seine Heiligkeit: "Einer aus meiner Familie im Vatikan – das hätte ich nie gedacht. Das ist ein wirklich drastischer Wandel für mich und meine gesamte Familie."
Eine Kochschule für die Armen
Ein Wandel in der Art wie Boliviens Ureinwohner wahrgenommen werden. Claudia will etwas davon zurückgeben – in ihrem Viertel El Alto, an dem Ort, an dem für sie alles begann. Die Kochschule Manq‘a ist ein Bildungsprojekt, das die Macher des Gustu ins Leben gerufen haben. An andere Schülerinnen gibt Claudia hier ihr Wissen weiter, damit diese – so wie Claudia früher – die ersten Schritte als Köche machen.
Jacqueline Zeballos von der Stiftung "Melting Pot": "Hier lernen Jugendliche aus den ärmsten Verhältnissen. Wenn die keine Beschäftigung erhalten, dann sind die in El Alto ganz schnell woanders: bei den Gangs, den Drogen, dem Leben auf der Straße. Das ist verführend. Wir aber sind die Alternative."
Dafür steht Claudia ganz konkret mit ihrer eigenen Biografie. Sie lebt noch immer in El Alto, weil ihr hier ihre Familie im Alltag hilft. Doch Claudia lernt bereits Englisch, mit ihrem Sohn, weil sie bald schon in Europa arbeiten will: ein Praktikum in einer europäischen Sterne-Gastronomie, damit sie irgendwann in Bolivien ihr eigenes Restaurant eröffnen kann: "Ich möchte mich in Europa spezialisieren und nach meiner Rückkehr den Bolivianern dieses Wissen weitergeben. Und irgendwann sollen auch meine Kinder meinem Beispiel folgen."
Claudias Geschichte – sie ist noch lange nicht zu Ende…
Autor: Matthias Ebert, ARD Rio de Janeiro
Stand: 28.08.2019 08:58 Uhr
Kommentare