Mo., 03.09.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Iran: Der gute Mensch von Mashad
"Hier haben wir geschlafen. In ein zwei Stunden wird hier sicher einer auftauchen, der heute Nacht unter dieser Plane Unterschlupf finden wird. Ich habe unter noch schlimmeren Umständen gehaust. Schau, so eine Plastiktüte packten wir uns über den Kopf, wenn es nachts regnete, um uns zu schützen. Manchmal hatten wir eine alte Decke, die wir über unseren Körper legten."
Ich frage ihn, ob er niemanden hatte, der ihm helfen konnte?
Masoud: "Nein, nirgendwo hatte ich einen Platz. Die Gesellschaft akzeptiert doch keinen Drogensüchtigen. Wenn Dich schon die eigene Familie verstößt, dann doch erst recht die Gesellschaft."
Zwei Jahre lebte er hier, am Rande der religiösen Stadt Mashad. Im Osten des Landes. Um an Drogen zu kommen, wurde er kriminell, kam ins Gefängnis – das Ende jeder Existenz hier im Iran. Doch Masoud hatte Glück: einer gab ihm eine Chance. Bedingung war nur, vorbestraft zu sein; Bedingung, um hier eingestellt zu werden. So steht es auf dem Werbekatalog für die Oliven, die hier weiterverarbeitet und verpackt werden; so sagt es Dr. Nabi, der Gründer und Leiter dieser Firma.
Außenseiter der Gesellschaft
Fast jeder, der hier arbeitet hat eine Vorgeschichte in der Illegalität: ehemalige Drogensüchtige, Frauen, die ihre Körper verkauften, oder alleinerziehend sind – alles Tabus in der iranischen Gesellschaft.
Dr. Nabi sagt: wer sind wir, um über Menschen und ihre Schicksale urteilen zu können. Jeder braucht eine zweite Chance im Leben. Genauso sagt er es den Häftlingen, wenn er im Gefängnis nach neuen Arbeitern sucht: "Ich sage: 'Kommt, wir erwarten Euch, wenn Ihr aus dem Gefängnis entlassen werdet. Bei uns bekommt Ihr einen Job.' Ich verstehe nicht, wie man zum Beispiel jemanden wie Hadi 13 Jahre lang einsperren konnte. Er steht genau hinter ihnen." "Hallo, Herr Doktor! Ich verdanke Ihnen so viel!" "Ich mag ihn wirklich sehr!"
Hadi leitet inzwischen die Finanzabheilung – eine große Verantwortung. Und Dr. Nabi vertraut ihm.
Gemeinsame Pausen, ein geregelter Arbeitstag, füreinander einstehen, so möchte Dr. Nabi seine "Kinder", wie er sie nennt, resozialisieren. Vielen schenkt er so Hoffnung, auch in Fällen, in denen es kaum noch eine gibt, wie bei Kasra: "Wir hatten uns Knallkörper gekauft und sie gegen eine Metzgerei geworfen. Der Metzger kam heraus, eine Schlägerei begann. Ich wehrte mich, schlug ihm ins Gesicht, dabei explodierte der Knallkörper in meiner Hand und zerfetze sie und das Gesicht des Metzgers. Er starb. Todesstrafe. Ich soll hingerichtet werden. Ich bin so müde geworden. Sie können mich seit vier Jahren jeden Moment hinrichten. Mir ist es schon fast egal, ob das Urteil noch einmal angefochten wird. Ich will endlich nur Klarheit."
Gefährliche Armut
Dr. Nabi möchte uns dorthin mitnehmen, wohin er geht, wenn er spürt, dass ihm bei so vielen Schicksalen, die er in seiner Firma aufgenommen hat, die Kraft ausgeht. Er verzweifelt, wenn er mit ansehen muss, dass die Armut in seinem Land immer größer wird: "Armut hat die größte Macht. Armut kann sogar die Gefühle einer Mutter, die heilig sind, betäuben, so dass sie ihr Kind in der größten Not für wenig Geld verkauft. Ich kenne so viele, die dazu gezwungen waren. Einen Säugling zu verkaufen, dann muss es Dir wirklich schlecht gehen."
In einem Land, das eigentlich durch seine Öl-und Gasreserven reich sein müsste, verschwindet die Mittelschicht und die Anzahl derer, die unter der Armutsgrenze leben, wird täglich mehr, während bestimmte Eliten im System reicher und reicher werden.
Alireza Nabi: "Das Wertvollste, das ein Land besitzt, sind doch die Menschen, nicht die Sehenswürdigkeiten und die Dämme, die gebaut werden., weil alles, was es in einem Land gibt, durch die Menschen beschützt, bewahrt oder auch vernichtet wird. Sie können so zum Beispiel die Umwelt verbessern oder vernichten."
Dr. Nabi erzählt mir, dass er weiß, wie man sich fühlt, wenn man arm ist. Er musste schon als Kind auf der Straße Zeitungen verkaufen und sich so um die Familie kümmern. Verkaufte er sie nicht, bestrafte ihn seine Mutter insofern, dass er alle übrig gebliebenen Zeitungen lesen musste. Heute ist er dankbar dafür. "Wissen verleiht einer Gesellschaft Reichtum", sagt er. Deshalb ist sein Vorbild einer der größten persischen Epiker: der Dichter Ferdowsi, der hier seit fast tausend Jahren begraben liegt. Ferdowsi sagt in einem seiner Gedichte: "Vielleicht habe ich in all den Jahren gelitten, doch ich habe dem Iran etwas hinterlassen."
Autorin: Natalie Amiri, ARD Teheran
Stand: 27.08.2019 22:41 Uhr
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