Mo., 10.04.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Protest gegen Entlassung
Die 34-jährige Nuriye Gülmen – sie war begeisterte Dozentin für Literaturwissenschaften bis zu jenem Tag, da sie ihren Namen auf einer in einer Zeitung veröffentlichten Entlassungsliste fand. Eine Begründung für ihren Rauswurf gab es nicht. Seither demonstriert Nuriye Gülmen Tag für Tag in einer Fußgängerzone Ankaras gegen ihre Entlassung. Vor gut drei Wochen ist sie zusätzlich in Hungerstreik getreten.
Rundumschlag gegen Andersdenkende
Offiziell lässt die islamisch-konservative Regierung verlauten, es seien Anhänger der Bewegung des Islam-Predigers Fetullah Gülen, die aus dem Schuldienst entfernt würden. Diese wird von Präsident Erdogan und seiner Partei für den Putschversuch vom 15. Juli letzten Jahres verantwortlich gemacht.
Nuriye Gülmen aber hatte und hat mit dieser Bewegung nie auch nur das Geringste zu tun. Sie steht politisch links, mithin weit entfernt von einem politischen Islam: "Als ich mit meinen Demonstrationen begann, war ich völlig alleine. Man hat nicht daran geglaubt! Jetzt aber gibt es immerhin eine gewisse Öffentlichkeit!"
Bereits vor einem Vierteljahr haben wir Nuriye Gülmen besucht. Damals demonstrierte sie nicht nur täglich, sie wurde auch noch regelmäßig von der Polizei festgenommen – insgesamt 40 Mal! Vier bis fünf Stunden hatte sie dann in Polizeigewahrsam zu verbringen, ehe man sie am Abend wieder gehen ließ.
Angst der Sicherheitskräfte
Nuriye Gülmen: "Da sitzt jemand und verlangt einfach seinen Job zurück. Die Sicherheitskräfte haben Angst, dass das Schule machen könnte. Denn es sind ja Tausende in einer vergleichbaren, wirklich verzweifelten Lage!"
Inzwischen hat das Dauerfasten Nuriye Gülmens Immunsystem geschwächt. Mehrere Kilo Gewicht hat sie bereits verloren. Ein türkischer Verein, der sich für Menschenrechte einsetzt, organisiert medizinische Betreuung für sie: Täglich wird sie untersucht.
Am Tag darauf: Für Nuriye Gülmen geht es weiter, wie gehabt - demonstrieren und hungern. Immer wieder kommen Menschen, die Solidarität mit ihr zeigen wollen. Selbst Post erreicht sie an ihrem derzeitigen "Lebensmittelpunkt".
Wut gegen die Passivität
Nuriye Gülmen: "Wenn ich immer wieder hören muss, dass sich entlassene Kollegen von mir das Leben nehmen, werde ich wütend! Meine Wut richtet sich zum einen gegen die dafür verantwortliche Regierung, zum anderen aber auch gegen unsere Gewerkschaften und uns selbst. Wir tun einfach nicht genug!"
Es wird Abend und mit ihm kommt die Kälte. Wie lange kann Nuriye Gülmen ihren Kampf noch führen? Wie weit ist sie bereit zu gehen? Nuriye Gülmen: "Viele Menschen denken bei Hungerstreik an Tod! Ich aber will nicht sterben! Ich will einfach meinen Job zurück!"
Die Türkei – ein Land im Ausnahmezustand: Was das bedeuten kann, weiß kaum jemand so genau wie Nuriye Gülmen.
Autor: Michael Schramm, ARD Istanbul
Stand: 16.07.2019 06:00 Uhr
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