Mo., 10.04.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Die Mauer an der Grenze nach Syrien
Hasan möchte Syrien verlassen. Lange hat er sich dagegen gewehrt. Bis vor zwei Monaten war der Fotograf noch mitten im Krieg: In seiner Heimatstadt Aleppo hat er die Schrecken des Bürgerkrieges festgehalten. Doch nun hat er keine Kraft mehr: "Ich möchte mit meiner Frau in die Türkei. Sie ist schwanger, hier ist es gefährlich. Außerdem haben wir hier nichts mehr – wir mussten alles in Aleppo zurücklassen."
Gescheiterte Familienzusammenführung
Hasans Familie ist bereits vor zwei Jahren in die Türkei geflohen. Er und seine Frau wollen zu ihnen. Doch es gibt ein Problem: Die Grenze zur Türkei ist mittlerweile geschlossen. Nur Schwerverletzte kommen noch rüber. Hasans Mutter macht sich Sorgen, als sie miteinander telefonieren: "Hallo, mein Schatz! Wie geht es Dir? Bist du gesund? Wann versuchst du, über die Grenze zu kommen?" Hasan antwortet: "Es gibt da diesen Mann: er sagt, er bringt mich rüber, aber er verschiebt es immer. Jetzt sagt er morgen."
Hasan befindet sich momentan in A’zaz, 50 Kilometer nördlich von Aleppo und nur zehn Kilometer von der türkischen Grenze entfernt.
Bau der Mauer
Die Grenze zwischen Syrien und der Türkei ist circa 900 Kilometer lang; früher dienten lediglich Zäune als Abgrenzung. Doch 2015 begann die Türkei mit dem Bau einer Grenzmauer – 520 Kilometer sollen es werden. 300 Kilometer stehen bereits, streng bewacht, wie auch der Rest der Grenze. Die EU hatte in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, dass die Grenze zu Syrien zu offen sei; vor allem Terroristen könnten beliebig ein- und ausreisen.
Nun sind auch Zivilisten von der Grenzschließung betroffen. Hasan hat bereits fünf Mal versucht in die Türkei zu gelangen. Jedes Mal erfolglos. Gerade ist er auf dem Weg Richtung Grenzmauer, will uns zeigen, wie die Situation dort aussieht.
Hasan: "Ich fühle mich, als wäre ich in Gaza, als wäre die andere Seite Israel. Wir sind aber in Syrien und hier herrscht Krieg. Und die Leute fliehen vor diesem Krieg und nicht einfach so."
Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass zwischen 500.000 und 700.000 Flüchtlinge auf der syrischen Seite der Grenze in Camps ausharren. Viele von ihnen wollen in die Türkei, die wenigsten noch weiter nach Europa, glaubt Hasan. Denn in der Türkei haben viele von ihnen Familienmitglieder, die bereits vor Jahren aus Syrien geflohen sind: "Unser einziges Ziel ist es, unsere Familien zu sehen. Das ist alles. Mehr wollen wir nicht."
Leere Drohung mit Flüchtlingen
Die Warnung des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, zehntausende Flüchtlinge nach Europa weiter ziehen zu lassen, ist sie am Ende eine leere Drohung? Lütfü Savas glaubt ja. Er ist Bürgermeister von Hatay, einer türkischen Stadt nahe der syrischen Grenze: "Um ehrlich zu sein, glaube ich sogar, dass die meisten Menschen, die Syrien verlassen wollen, das längst getan haben. Und von denen, die schon in der Türkei sind, wollen noch die wenigsten nach Europa, denn sie haben jetzt Jobs hier in der Türkei und ihre Kinder besuchen türkische Schulen."
In Hatay leben 500.000 syrische Flüchtlinge; sie machen ein Drittel der Bevölkerung aus. Viele Syrer haben hier Läden eröffnet. Das Zusammenleben funktioniert gut. Und dennoch sagt der Bürgermeister auch: "Uns bleiben mittlerweile die Besucher aus. Das hat uns sozial, aber vor allem wirtschaftlich sehr getroffen. Wir wünschen uns, dass dieser Krieg endlich aufhört, und unsere Gäste wieder zurück in ihr Land gehen, um dort zu leben."
Hasan will erst noch in die Türkei, mit der Hilfe eines Bekannten, der Kontakte zum Militär besitzt. Mit der Kamera sollen wir nicht mitkommen, Hasan hat Angst, dass wir auffallen. Wir verabreden, ihn in der Türkei zu treffen, falls er es dorthin schafft.
Die Familie kommt wieder zusammen
Etwa 300 Kilometer von Hasan entfernt, im türkischen Mersin, lebt seit zwei Jahren seine Familie. Sie hat versucht Hasan und seine Frau über eine Familienzusammenführung zu sich zu holen. Doch das hat nicht geklappt. Seine Eltern sind ratlos, die Mutter ist besorgt: "Während der Belagerung von Aleppo konnte ich nicht mehr schlafen, weil ich so große Angst um ihn hatte. Ich mache mir immer noch so große Sorgen. Und hoffe, dass sie es rüber schaffen." Hasans Vater beschreibt, wie es ihnen geht: "Ich danke der Türkei; die Leute hier sind besser als wir. Aber eigentlich wollen wir wieder nach Syrien, in unsere Heimat."
Plötzlich ruft Hasan bei seinem Bruder an: "Du bist über die Grenze? Was? - Oh Gott, zum Glück!" Hasan hat es geschafft und ist auf dem Weg zur Familie. Fünf Stunden später: Hasans Frau Rama ist auch dabei. Wie es für die beiden hier weitergeht, steht noch nicht fest; für Hasan ist das aber gerade zweitrangig: "Es ist ein unglaubliches Gefühl, endlich in der Türkei zu sein. Ich war so nervös. Ich hab es ja so oft versucht. Jetzt hat es endlich geklappt. Fast 24 Stunden waren wir unterwegs. Ich bin müde, aber auch unglaublich glücklich und ich fühl mich befreit."
Autorin: Katharina Willinger, ARD Istanbul
Stand: 14.07.2019 09:43 Uhr
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