Mo., 22.02.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
USA: Trotz Arbeit kein Zuhause
Eine Kerze für all jene, die die Straße nicht überlebt haben. Bei einer Andacht in einer New Yorker Kirche werden einmal im Jahr auch die Namen der Toten verlesen. Ein Abschied in Würde für jene, deren letzte Stunden oft menschenunwürdig waren. Von Mäusen, Kakerlaken, Schüssen in der Nacht, von Orten wie Albträumen handelt sein Gedicht. Die Gedenkfeier dient auch dem Erfahrungsaustausch. Der obdachlose Scott Hutchins erzählt: "Ich habe vor elf Jahren an der Uni meinen Master-Abschluss gemacht, seit 3 Jahren und sieben Monaten bin ich obdachlos. Nun habe ich wieder einen Job und verdiene 12,60 Dollar pro Stunde. Wenn man 30 Prozent seines Einkommens für die Miete aufbringen soll, wären das bei mir 573 Dollar. Dafür kann ich in New York nichts finden."
Obdachlos trotz Arbeit
So geht es auch Familie Mitchell, auch wenn man ihnen die Hürden des Alltags auf den ersten Blick nicht ansieht. Ariayanna und ihr Bruder Elijah haben heute besonders viel Spaß. Denn ihre Eltern haben einen freien Tag. Kali Mitchel arbeitet als Tagesmutter und ihr Mann Shequan auf dem Bau. Eine ganz normale Familie so scheint es – doch obwohl die Eltern einen Job haben, leben sie seit einem halben Jahr in einem Obdachlosenheim. Ihre Kinder sollen von der schwierigen Situation so wenig wie möglich mitbekommen.
Kali Mitchell versucht stark zu sein: "Ich versuche mich von den Herausforderungen nicht erdrücken zu lassen. Ich will stark sein – stark für meine Kinder. Ich will ihnen zeigen, dass man trotz aller Probleme stark bleiben muss – vor allem für sich selbst!“ Auch ihre Ehe versucht die Fünfundzwanzigjährige im Gleichgewicht zu halten. An ihrem Mann schätzt sie besonders, dass er sich nie hängen lässt. "Natürlich ist es manchmal hart und natürlich streiten wir auch manchmal. Wer will schon in solch einer Situation stecken. Aber meistens geht es uns besser, wenn wir uns klar machen, dass wir einander haben, und dass wir zusammenhalten müssen."
Der Glaube an den amerikanischen Traum
Die Familie landete auf der Straße, als der Vermieter wieder einmal die Miete erhöhte. Kali war gerade schwanger und konnte nichts zur Miete beisteuern. Ironie des Schicksals: Inzwischen vermietet der Eigentümer das Haus an die Stadt, die es in ein Obdachlosenheim verwandelte. Das bringt ihm mehr Geld, als die Wohnungen zu vermieten. Die Mitchells haben noch keine neue Wohnung gefunden – alles zu teuer. In eine andere Stadt zu ziehen kommt auch nicht in Frage, denn dort müssten sie zwei neue Jobs finden. Trotz allem – sie glauben weiter ganz fest an ihn, ihren amerikanischen Traum. An das Leben im Obdachlosenheim haben sie sich inzwischen so gut es geht gewöhnt.
Shequan Mitchell, der Vater der Familie, erzählt: "Es ist nicht so schlimm wie man denkt. Es ist sauber, ordentlich und ruhig. Es gibt einen Waschkeller und sogar Kinderbetreuung. Und wenn man Hilfe braucht ist ein Sozialarbeiter da." Das Obdachlosenheim dürfen wir nur von außen drehen. Die Stadt New York achtet auf ihr Image, will politisch brisante Bilder möglichst vermeiden. Eine seltene Ausnahme gab es nur kurz vor Weihnachten, als Bürgermeister Bill de Blasio hierher kam, um kamerawirksam Geschenke an die Kinder zu verteilen. Der Demokrat de Blasio war mit dem Versprechen angetreten, New York wieder zu einer Stadt zu machen, in der jedermann leben, arbeiten und Kinder großziehen kann. Stattdessen steigen in seiner Amtszeit die Obdachlosenzahlen in Rekordhöhe: Rund 60.000 Menschen leben inzwischen in Heimen wie diesem hier, davon 24.000 Kinder.
"Es war nicht genug"
Erst jetzt präsentiert de Blasio ein neues Maßnahmenpaket. So sollen unter anderem mehr Sozialarbeiter eingestellt werden. "Warum gehen Sie das Problem erst jetzt mit so großer Entschlossenheit an?", wollen wir vom New Yorker Bürgermeister wissen. Er sagt: "Wir haben es mit einem sehr großen, strukturellen Problem zu tun. Wir hatten eine Rezession und gleichzeitig sind die Wohnungspreise kontinuierlich gestiegen. Deshalb werden wir 200.000 bezahlbare Wohnungen bauen – so viele wie nie zuvor eine Stadt in der Geschichte der USA. Und wir werden 15.000 weitere Sozialwohnungen schaffen." De Blasio bemüht sich mehr zu liefern als nur Lippenbekenntnisse – und zeigt sich für einen Politiker erstaunlich selbstkritisch. Er gibt zu: "Es war nicht genug. Was wir zu lange vernachlässigt haben sind die Obdachlosen draußen auf der Straße."
Sie prägen das Gesicht New Yorks immer mehr. Etwa 3200 Obdachlose leben inzwischen auf den Straßen. Bürgermeister de Blasio will sie jetzt systematisch registrieren und in Notunterkünfte bringen lassen – wenn es sein muss auch mit Polizeigewalt. Der Existenzkampf hat viele Facetten.
Autor: Jan Philipp Burgard, ARD New York
Stand: 11.07.2019 04:37 Uhr
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