So., 05.11.23 | 18:30 Uhr
Argentinien: Todesflieger und die schwierige Vergangenheit
Der Weg zur ehemaligen Marineschule in Buenos Aires fällt Miriam Lewin nicht leicht. Sie geht ihn aber, weil sie aufklären will. Es ist ein Ort des Grauens, denn hier wurden in der Zeit der Militärdiktatur Menschen gefoltert, auch sie. Hier steht seit Kurzem auch die Skyvan, ein Propellerflugzeug, aus dessen Heck damals betäubte Oppositionelle in den Atlantik gestürzt wurden, damit keine Spur von ihnen bleibt. Ein stummer Zeuge der Verbrechen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Eine Mahnung, wie wertvoll die Demokratie ist. Denn die ist in Argentinien wieder in Gefahr, meint Miriam Lewin. In zwei Wochen findet die Stichwahl um das Präsidentenamt statt. Einer der beiden Kandidaten, der Rechtspopulist Javier Milei, leugnet die Verbrechen der Vergangenheit.
Menschen wurden ins Meer geworfen
Unterwegs in Buenos Aires hat Miriam Lewin kurz vor dem Ziel ein Mix an Gefühlen. Die Menschenrechtsaktivistin ist auf dem Weg zu einem Ort, der für sie das reine Grauen ist: "Gerne fahre ich nicht zur Marineschule ESMA", sagt die Menschenrechtsaktivistin Miriam Lewin. "Es ist unheilvoller Ort der Schwere, es ist etwas Traumatisches, aber ich glaube ich habe eine historische Verantwortung zu reden." Da steht sie jetzt, die Skyvan. Über 46 Jahre alt. Ein Todesflieger, eingesetzt in der Zeit der Militärdiktatur, eine Waffe gegen alle die, die dem rechten Regime als Feind galten. "Ich kann nicht aufhören daran zu denken, wie durch die Heckklappe Menschen ins Meer geworfen wurden, um in den Tiefen ihr Grab zu finden. Menschen, die ich kannte, Freunde, Aktivisten und Mitgefangene."
1976 putscht sich das Militär in Argentinien an die Macht. Es überzieht das Land mit Gewalt und Terror. Foltert und ermordet angebliche Regimegegner. 30.000 Menschen gelten bis heute als verschwunden. Zu den abscheulisten Taten gehören die Todesflüge. Hinter diesen Fenstern lagen Aktivisten, aber auch Mütter, Nonnen, deren einzige Schuld es war zu protestieren, die Auskunft über ihre verschwundenen Kinder einforderten. Sie wurden betäubt, entkleidet und in den Atlantik gestoßen. "Man wollte jegliche Spur von ihnen, ihre gesamte Existenz auslöschen", sagt Miriam Lewin. "Sie haben ihren Familien nicht mal mehr die Möglichkeit gegeben, eine Blume auf ihr Grab zu legen."
Miriam war mit 19 Jahren eine linke Aktivistin, sie wurde schwer gefoltert, hier auf dem Gelände leistete sie Zwangsarbeit. In diesem Keller wurden Kameraden für die Todesflüge betäubt. Es hätte auch Miriam treffen können. Heute ist das Gelände ein Museum, heute ist Argentinien 40 Jahre demokratisch, die Diktatur für Jugendliche weit weg. "Es ist wichtig, dass die jungen Leute verstehen, dass wenn sie heute für ihre Rechte kämpfen, dann wären sie zu meiner Zeit dafür in Haft gekommen, man hätte sie, entführt, verschwinden lassen oder ins Meer geworfen."
Ein Präsidentschaftskandidat relativiert die Diktaturverbrechen
Nach der Diktatur waren die Flieger verschwunden, dank investigativer Recherche von Miriam und befreundeten Journalisten wurde diese Skyvan in Florida gefunden, wo sie von Hobbyfallschirmspringern genutzt wurde. Nach 40 Jahren ist sie feierlich nach Argentinien zurückgebracht worden und dient jetzt der Aufklärung. Eine Aufklärung, die die Militärs in einem "Pakt des Schweigens" stets verweigert hatten.
Doch für Miriam liegt ein Schatten über allem Erreichten: rechte Kräfte drängen in Argentinien an die Macht: Der Rechtspopulist Javier Milei will in zwei Wochen Präsident werden und hat gute Chancen. Denn das Land ächzt unter einer Jahresinflation von fast 140% – eine der höchsten der Welt. Mileis Wahlkampf: geprägt von Wut und Provokation. Sein Markenzeichen: die Motorsäge. Er verspricht, dass wie er sagt, korrupte, inkompetente Polit-Establishment zu verjagen, alles umzustoßen: Minderheitenrechte, Umweltschutz, wozu: "Fort damit". Miriam hat größte Sorgen. Milei scheut nicht davor zurück, die Verbrechen der Militärdiktatur in Frage zu stellen, den gesellschaftlichen Konsens dazu aufzubrechen. "Es gab keine 30.000 Verschwundenen, es waren 8.753. Wir sind absolut gegen eine Verfälschung der Geschichte." Reaktion von Miriam Lewin: "Milei lügt."
Gegenhalten ist jetzt so wichtig wie nie, darin sind sie sich einig: Ihre Eltern haben in der Diktatur an den Verbrechen mitgewirkt. Sie nennen sich "Die Ungehorsamen", weil sie erzählen, was sie zu Hause mitgehört haben, was ihre Eltern ihnen erzählten. "Aus ihrer Sicht waren die Aktivisten nicht zu retten, denn sie hatten ja eine Ideologie… als hätten sie die Pest", sagt Pablo Verna. Erikas Vater hat als Arzt die Babys verhafteter und verschleppter Frauen entbunden. Die Säuglinge wurden weggegeben. "Und die Mütter wurden in den Rio de la Plata geworfen. Das ist ein Verbrechen, das unverzeihlich ist. Ich habe ihn gefragt: hast du bereut und er sagte, ich würde es wieder tun." Im Namen der Gerechtigkeit wollen sie aufklären: "Mein Vater hat an der Durchführung der Todesfügen mitgewirkt", sagt Pablo, "indem er den Opfern Beruhigungsmittel gespritzt hat… Bei uns zu Hause hießen sie Subversive."
Sorgen um die Demokratie in Argentinien
Es hat Jahre gedauert, bis Pablo die Wahrheit erfuhr, er stellte bohrende Nachfragen, doch der Vater schwieg eisern: "Er sagte Pablo, du musst verstehen, es war Krieg, da passieren Dinge…Ihre Verbrechen sind der absolute Horror."
Sie sagten gegen ihre Eltern aus, sie sprechen öffentlich. Für sie alle bedeutete das einen Bruch mit der Familie. Immer demonstrieren sie gemeinsam, für ihren Schutz und mehr Aufmerksamkeit. Die Sorge ist groß, was Argentinien in zwei Wochen bevorsteht. "Es geht uns im Land nicht gut: die Inflation, die Pandemie, es gibt Hunger", klagt Maria Laura Delgadilio. "Die Zukunft scheint ungewiss, gerade für die Jugendlichen. Sie sehen keine Arbeitsmöglichkeiten, sie sehen keine wirtschaftliche Sicherheit. Das ist der perfekte Nährboden für jemanden wie Milei."
Die politische Lage jetzt, ist ein weiterer, drängender Grund, warum es Miriam weiterhin raus treibt. Warum sie sich wieder und wieder mit Zeitzeugen an den Tisch setzt und berichtet. Viele junge Menschen sind gekommen und suchen den Austausch. "Ja, es gibt mir viel Hoffnung, die Zeit wird es zeigen." Es ist ihr Einsatz für die Demokratie in Argentinien, die jetzt 40 Jahre alt wird. Und weil sie so bedroht ist, ist es ein Kampf, der für Miriam Lewin wohl nie enden wird.
Autorin: Xenia Böttcher, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 05.11.2023 21:56 Uhr
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