Mo., 16.04.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Japan: Kindersegen im Land der Alten
Schön ist es nicht in Nagi. Der Spielplatz hat die besten Tage hinter sich. Und doch lieben Miku und ihre dreijährige Tochter Shiori diesen Ort. Es muss nicht immer hip und modern sein, wenn der Rest stimmt. Miku Yonezawa ist zufrieden: "Die Kinder sollen sich frei bewegen. Dafür braucht man viel Verständnis von anderen. Es hilft, wenn sie gelassen bleiben. Auch wenn die Kinder laut werden."
Nagi liegt im Südwesten Japans, böse gesagt: in der Pampa. Die meisten fahren durch, bemerken nichts außer Langeweile und Stille, unterbrochen nur wie üblich vom Glockenspiel.
Ein besonderes Städtchen
Doch Nagi ist besonders: 6000 Einwohner leben hier, 700 sind Kinder. Die kleine Stadt hat ihre Geburtenrate zwischenzeitlich verdoppelt. In kaum einem Ort in Japan werden mehr Kinder geboren. Die Stadt ist wie eine große Familie. Und dieser schmuckloser Flachbau eine Art Wohnzimmer oder Küche, wo man sich trifft. Miku und ihre Tochter kommen jeden Vormittag. Alle sind herzlich willkommen: Mütter, Großeltern, Kinder.
Miku Yonezawa beschreibt: "Vielleicht sind wie nicht ganz so vertraut wie eine Familie, aber wir haben schon eine ziemlich enge Beziehung miteinander."
Frauen entscheiden sich in Japan oft gegen Kinder, Miku nicht. Sie verzichtet im Moment auf die Karriere, anders als die Väter der Kinder: sie tragen nichts zum Erfolg der Kleinstadt bei.
Miku erwartet ihr zweites Kind. Die Familie zog vor gut einem Jahr extra aus der Großstadt aufs Land wegen der Natur, aber auch, weil die Stadt so viel bietet.
Wenn sie keine Familien anlocken, stirbt die Kleinstadt. Das hat der Bürgermeister verstanden. Grundstücke gibt es deshalb günstig. 1000 Euro zur Geburt des ersten Kindes, 1500 für das zweite. Dazu einen Babysitter-Service und kostenlose Medizin. 900.000 Euro zahlt die Stadt pro Jahr für all die Programme. Für Bürgermeister Yoshitaka Kasagi eine gute Investition: "Ich bin sehr froh. Es ist doch toll, dass es viele Kinder gibt. Das gibt uns, der Stadt, Kraft. Sie sind unsere Zukunft. Ich setze meine große Hoffnung auf sie."
Alle Generationen packen an
Morgens, acht Uhr ist der Stresspegel am höchsten: Harumi Sakamato kümmert sich um die Enkelin. Sie ist bei der Tochter eingezogen: "Es ist ein Schlachtfeld hier, bevor ich gleich das Haus verlasse." 65 ist sie heute. Ihre drei Kinder hat sie allein groß gezogen. Nun kümmert sie sich um die nächste Generation – eine Oma, die hilft. Erstmal nichts Ungewöhnliches, aber sie hat gleich die Rente aufgeschoben, kümmert sich um die vielen anderen Kinder von Nagi. Täglich arbeitet sie gut fünf Stunden in der Kita: "Ich liebe es. Ich habe ja schon verschiedene Jobs gemacht, aber jetzt denke ich jeden Tag: Das ist genau der richtige Beruf für mich!"
Sie ist plötzlich vielfache Oma, eine, die Stress abkann. Hier ist sie wieder: Die Großfamilie von Nagi. Harumi verdient sich ein paar hundert Euro dazu. Ihr großes Kapital ist Lebenserfahrung: "Eine große Verantwortung! Ich muss echt aufpassen, damit die Kleinen heil nach Hause kommen. Manche stolpern und haben dann einen Kratzer im Gesicht. Andere bekommen Fieber."
Jobbörse an der Tankstelle
An der Tankstelle in Nagi verkaufen sie kein Benzin, hier bieten sie Jobs für ein paar Stunden – auch so eine Idee speziell für junge Mütter, die keinen Vollzeitjob haben; perfekt für Miku: sie muss heute Bohnen sortieren und die Qualität prüfen, verdient sich ein wenig dazu. Tochter Shiori bringt sie einfach mit: "Zu Hause könnte ich auch mit meiner Tochter spielen und nebenbei arbeiten. Aber es ist für sie doch auch spaßiger, wenn es mit anderen Kindern zusammen spielen kann, so wie jetzt gerade. Ich selbst kann mit anderen Müttern plaudern."
Harumi Sakamato kümmert sich um die vielen geborgten Enkel. Eltern zahlen in Nagi ab dem zweiten Kind nichts für die Betreuung. Bis 18 Uhr können die Kinder in der Kita bleiben. Harumi sehnt sich auch manchmal nach Ruhe, aber sie weiß: Sie wird gebraucht. Und wenn sie ehrlich ist: Das ist ja nicht das Schlechteste: "Niemand soll auf einen Kitaplatz warten müssen. Deswegen müssen wir Erwachsene auch mithelfen. Anders kannst du eine kinderfreundliche Stadt nicht aufbauen. Wir Alten werden aktiver. Wir kitzeln unsere Emotionen. Und es ist gut, Kontakt mit den jungen Leuten zu halten."
Eine Kleinstadt schwimmt gegen den Strom. Funktioniert nicht perfekt, aber geht in die richtige Richtung. Schrumpfen werden sie trotzdem. Aber deutlich langsamer als der Rest Japans. Das ist schon ein Erfolg.
Autor: Gábor Halász, ARD Hamburg
Stand: 02.08.2019 22:42 Uhr
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