Mo., 07.05.18 | 04:40 Uhr
Das Erste
Russland: In Wolokolamsk stinkt’s zum Himmel
Es stinkt zum Himmel – bestialisch. Ein fauliger Geruch liegt in der Luft. Er weht von der Müllkippe über die ganze Stadt. Und im Sommer ist es noch schlimmer, wenn die Sonne die Müllkippe aufheizt. "Du tötest Kinder!" "Wir sagen nein zum Müll-Genozid!" steht auf Ihren Plakaten: "Wolokolamsk erstickt im Müll. Wir sind für reine Luft!"
Früher ist man nach Wolokolamsk gezogen wegen der guten Luft und des frischen Wassers. Man war stolz auf seine Gemüsegärten. Und jetzt? Die Müllberge wachsen in den Himmel, erklärt uns Jekaterina Kolzowa: "Es kommt immer mehr Müll aus Moskau. Hier wird alles unsortiert abgeladen. Diese Müllhalde muss weg."
Auf der Bühne spricht sie vor den Demonstranten: "Man hat uns versprochen, dass man keinen Müll mehr herbringen und eine holländische Firma die Halde entgiften wird. Aber wir sehen keine Vorrichtungen und Müllautos kommen nach wie vor. Und was passiert mit der zweiten neuen Müllhalde? Wir haben kein Vertrauen mehr!"
Der Müll von 24 Millionen Menschen
Nachts stehen die LKW sogar Schlange mit dem Müll aus Moskau. Rund 24 Millionen Menschen in und um Moskau produzieren alljährlich elf Millionen Tonnen Abfall, und der landet zu 94 Prozent auf den Deponien rund um Moskau, ungetrennt und ungefiltert: Nahrungsreste, Lacke, Computer, Batteriesäuren vergären zu giftigen, stinkenden Müllbergen.
Jekaterina Kolzowa beklagt die Missstände: "Wir demonstrieren regelmäßig direkt an der Mülldeponie. Hier sollte längst eine Hülle gebaut worden sein, um den Abfall zu entgiften. Und daneben haben sie schon eine zweite Müllhalde eröffnet, von der wir nicht wissen, ob sie besser ist. Wir sind strikt dagegen."
Demonstrantin Swetlana: "Ich schlafe mit einer Gasmaske, denn es hat heute Nacht gestunken, auch in der Nacht davor. Es ist zum Erbrechen!"
Sergej sieht Gefahr für die Kinder: "Wir bringen unsere fünfjährige Tochter in eine andere Stadt, zur Großmutter aufs Land, um sie zu schützen. Es ist wirklich schrecklich hier."
Sie vertrauen weder den Behörden, noch den Betreibern der Müllkippe. Selbst der Bürgermeister steht hinter den Demonstranten und hat sich mit ihnen solidarisiert.
Mittlerweile klagen sie gegen die Behörden und den Betreiber, weil im März aufgrund 200-fach erhöhter Schwefelwasserstoffwerte in der Luft alle Schulen geschlossen werden mussten und Kinder mit Vergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden.
Jekaterina Kolzowa erklärt: "Unsere Hauptforderung ist es, die Müllhalde zu schließen und die Ökologie wiederherzustellen. Unser Bezirk war früher immer eine ‚Grüne Lunge Moskaus‘."
Chefsache für Putin
Den Anwohnern der Stadt Balaschicha im Moskauer Stadtgebiet ist das gelungen: in der alljährlichen Fernsehfragestunde an den Präsidenten beschwerten sie sich über den permanenten fauligen Geruch. Daraufhin ließ Wladimir Putin die Mülldeponie Kutschino, Mitte der 60er Jahre eröffnet, im Juni letzten Jahres schließen. Eine große Geste, mit der der Präsident zeigte, dass er den wohl größten Schandfleck Russlands, so groß wie 100 Fußballfelder und 20 Stockwerke hoch, quasi über Nacht beseitigen konnte.
Reine PR, meint Greenpeace. Leider lassen sich Russlands Müllprobleme nicht über Nacht lösen. Die Politik habe versäumt rechtzeitig die Weichen für eine moderne Müllentsorgung zu stellen, wie Alexej Kiselow von Greenpeace erklärt: "Die Gründe liegen auf der Hand: Die Stadt hat einfach nicht die Tatsache bedacht, dass die Bevölkerung um das Zweifache gewachsen ist. Die Konsumstruktur hat sich in den letzten Jahren verändert. Aber man lebte einfach wie in den 70er und 80er Jahren und nutzte die Deponien, die noch in der Sowjetunion unter Breschnew gebaut wurden."
Das neue Abfallwirtschaftsgesetz
Das soll sich nun so schnell wie möglich ändern, vor allem im Großraum Moskau, beteuert der verantwortliche Minister für Ökologie Alexander Kogan: "Um ehrlich zu sein, hat es den Müllsektor als Branche weder in Russland noch in Sowjetunion gegeben. Ein System hat es nie gegeben. Erst vor zwei Jahren wurde das sogenannte Abfallwirtschaftsgesetz verabschiedet."
Und das gilt es jetzt umzusetzen: In der Stadt Saransk, ein Austragungsort für die Fußballweltmeisterschaft, hat man bereits vor sechs Jahren angefangen den Müll zu trennen. Mit Hilfe eines deutschen Unternehmens ist Saransk eine der wenigen Städte in ganz Russland, in der Plastik und Verpackungsmüll getrennt und recycelt werden. Schon in der Schule lernen die Schüler alles über den Wertstoffkreislauf: Mit Malwettbewerben und Projektwochen setzen sie sich mit dem Thema Umwelt auseinander. Sie sind die Vorreiter, wenn es darum geht, wie halte ich meine Stadt sauber. Swetlana Bigesse von der Firma Remondis: "Eine Schülergeneration ist schon mit diesem System aufgewachsen. Ich denke, dass wir dieses System in Saransk schon erreicht haben. In den russischen Städten, wo diese Infrastruktur der getrennten Sammlung überhaupt noch nicht vorhanden ist, wird das fünf, sechs Jahre dauern, nachdem dieses System aufgebaut wird."
Weg aus Wolokolamsk?
Dafür will auch Ekaterina Kolzowa in Wolokolamsk kämpfen: moderne Mülltrennung sei der einzige Weg, meint sie. Einige Bewohner seien zwar schon aus der Stadt weggezogen, doch für sie wäre das keine Option, denn die Immobilienpreise sind ins Bodenlose gestürzt: "Die Behörden haben uns klipp und klar gesagt: wenn es euch hier nicht gefällt, dann geht doch weg. Aber meine Eltern sind hier begraben. Hier sind meine Wurzeln. Unser Geschäft bricht zusammen. Alle sind ständig krank. Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll."
Und so kleben sie lieber jeden Abend ihre Fenster und die Schlüssellöcher zu, denn nachts ist der Geruch am schlimmsten.
Autorin: Birgit Virnich, ARD Moskau
Stand: 03.08.2019 05:27 Uhr
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